Das Leben kleben
Siebenten-Tags-Adventisten, Zeugen Jehovas, die Pfingstbewegung, Sandemanianer, Christadelphianer, die Kirche des Neuen Jerusalem, Mormonen, die Brüderbewegung. So viele verschiedene Glaubensbekenntnisse, die alle, wie Ben bis vor kurzem, auf den Jüngsten Tag warteten, der einen neuen Himmel und eine neue Erde bringen würde - nicht nur dort, in jenem trockenen, dornigen, gequälten Land, sondern hier, im feuchten,
grünen Highbury. Sie warteten immer noch. Sollten sie warten, dachte ich.
Gegen Ende des Kapitels fand ich einen kurzen Abschnitt: »In den späten 1930er Jahren wurde in einem Haus am Totley Place eine teresianische Gemeinde gegründet. Nach einem Bombenangriff wurde das Haus 1941 evakuiert, und die Gemeinde verstreute sich in alle Winde.« Mein Herz schlug schneller - das konnte es sein! Mehr stand allerdings nicht da. Die Autorin war eine Miss Sylvia Harvey. Das Buch war 1977 veröffentlicht worden, vor dreißig Jahren. Ich kritzelte die Details auf ein Stück Papier. Im Saal war es so still, dass man das Kratzen meines Stifts deutlich hörte. Es gab kein anderes Geräusch bis auf Schniefen und Rascheln und das gelegentliche Gurgeln des Wasserspenders, als hätte er Verdauungsstörungen. Das Gurgeln erinnerte mich daran, dass mein Vater heute seinen Operationstermin hatte. Ich fragte mich, wie es gelaufen war.
In der anderen Ecke bei den Zeitschriften und Zeitungen kämpfte ein großer, kräftig gebauter Mann mit der
Financial Times.
Er saß mit dem Rücken zu mir. Er hatte graue Locken - nein, eher blonde, mit grauen Strähnen. Ich starrte ihn an.
Erst dachte ich, meine Augen spielten mir einen Streich, aber es bestand kein Zweifel. Es war Rip. Neben ihm am Boden standen seine Aktentasche und unsere große blaue Thermoskanne. Ich wollte zu ihm gehen, ihm von hinten die Augen zuhalten, ihn überraschen, aber etwas hielt mich zurück - die Art, wie er da saß, die eingesunkene Haltung, der Blick starr nach vorn, die hängenden Schultern. Er sah erledigt aus. Er las die Zeitung nicht einmal, stellte ich fest, sondern schlug nur die Zeit tot. Er schlug in der Bibliothek die Zeit tot, weil er nicht wollte, dass wir mitbekamen, dass er nicht bei der Arbeit war.
Ich nahm das Büchlein mit zum Informationstisch.
»Wie kann ich die Autorin finden?«, flüsterte ich.
Die Frau lächelte flüchtig. »Sie könnten es im Telefonbuch versuchen. Oder im Internet. Soll ich es mal für Sie probieren?« »Nein, schon gut. Danke für Ihre Hilfe.«
So leise ich konnte, packte ich meine Sachen zusammen und schlich mich auf Zehenspitzen aus dem Saal.
45 - Rauchringe
Ich stand bereits in der Küche, als Rip um kurz vor sechs nach Hause kam. Es gab ein kompliziertes Gericht mit Tofu und Zitronengras. Stella war unterwegs, und Ben lag mit einem Buch auf dem Sofa. Seit seinem Anfall saß er kaum noch am Computer und sah nur selten fern.
»Soll ich dir helfen, Mum?«, hatte er von oben gerufen. Seine Stimme klang tief, weniger brüchig als noch vor ein paar Wochen. Wie schnell er sich verändert hatte.
»Geht schon«, rief ich zurück.
Ich war froh, wenn er die Nase in Bücher steckte wie ich in seinem Alter, auch wenn ich später, als er zum Essen runterkam, sah, dass sein Buch
Die Rache der drallen Biker-Chicks
hieß.
»Hallo, Ben! Hallo, Georgie!«, rief Rip, als er hereinkam, und verschwand sofort im Arbeitszimmer auf halber Treppe. Ich hörte, wie er herumräumte und Musik anmachte. Eine halbe Stunde später steckte ich den Kopf durch die Tür.
»Essen ist fertig.«
»Wofür ist denn dieses Zeug hier, Georgie?«
Er stand in der Mitte des Zimmers und hielt die Baumarkt-Tüte in der Hand.
»Wo hast du das her?« Dann fiel es mir wieder ein. Ich hatte die Tüte im Regal versteckt, als Mark Diabello vorbeigekommen war.
»Bist du unter die Heimwerker gegangen?« Er sah mich aufmerksam, neugierig an. Ich spürte, dass ich rot wurde.
»Nein. Nicht unter die Heimwerker. Ich wollte eine Collage machen.«
»Eine Collage?«
Innerlich lächelte ich über seine ungläubige Stimme. »Du weißt schon - Sachen zusammenkleben. Als Kunstform.« Unsere Blicke trafen sich. Er grinste. Ich grinste. Wir standen da und grinsten einander über eine Brücke von Lügen hinweg an. Ich würde ihm niemals sagen, dass ich ihn in der Bibliothek entdeckt hatte, dass ich seine Verwundbarkeit gesehen hatte. Zögernd streckte ich die Arme aus und machte einen Schritt auf ihn zu. Dann war da ein leises Zischen und es roch
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