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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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gesungen, den Reden gelauscht und jede Menge Bier getrunken. Mein Vater hatte glasige Augen und war ungewöhnlich redselig. Mama war per Los zum Fahrer auserkoren worden, aber auch sie hatte einen im Tee.
     
    Papa: (Murmelt Mama zu.) Was zum Teufel hat unsere Georgie da heimgebracht?
    Mama: (Flüstert mir zu.) Da hast du einen dicken Fisch geangelt, Georgie.
    Ich: (Verlegen zu Rip.) Das sind meine Eltern, Jean und Dennis Shutworth.
    Rip: (Charmant und goldgelockt.) Rip Sinclair. Hocherfreut, Sie kennenzulernen.
     
    Papa trug seinen besten Dreiteiler, die Weste bis oben hin zugeknöpft. Die einzige Nachlässigkeit, die er sich je zugestand, war ein leicht gelockerter Krawattenknoten. Mama war längst der Versuchung des Gummibunds erlegen, doch heute hatte sie sich dem Anlass zu Ehren herausgeputzt, ihre Lippen kirschrot nachgemalt und sich einen Hauch von »Je Reviens« hinter die Ohren getupft.
     
    Mama: (Mit besonderer Sorgfalt bei den Vokalen.)
    Rip. Das ist ein ungewöhnlicher Name.
    Rip: (Mit einem selbstironischen Grübchenlächeln.) Es ist die Abkürzung von Euripides. Meine Eltern hatten Großes mit mir vor. (Sein Lächeln lässt mein Herz durch die Gegend hüpfen. Ich bin verliebt.)
    Papa: (Flüstert mir zu.) Nicht dein Typ, Georgie.
    Ich: (Flüstere Papa zu.) Du irrst dich. Er ist nicht so einer. Er steht auf unserer Seite.
    Papa: (Presst die Lippen zusammen. Schweigt.)
    Mama: (Springt ein.) Möchten Sie vielleicht zum Tee bleiben?
    »Und da ist er geblieben und hat eine Tasse Tee getrunken?« Mrs. Shapiro unterdrückte ein Gähnen. »Mit Ihren Eltern? In Deutschland wäre das ganz normal.«
    »Nein. In Yorkshire sagt man Tee zum Abendessen.«
    Mama holte eine Großpackung Tiefkühlpommesfrites aus der Kühltruhe, schüttelte den Inhalt in eine Pyrexschüssel und schob ein Dutzend vorgekochte Hühnerschenkel mit Barbecuegeschmack unter den Grill. Dann machte sie eine Dose Jackson's-Pilzsuppe in der Mikrowelle heiß und kippte sie über die Hühnerschenkel. Das Herz rutschte mir in die Stiefel. »Barbie-Kuh nach Art des Hauses«, sagte sie, indem sie großzügig nachsalzte, für den Fall, dass Mr. Jackson mit Salz gegeizt hatte. Rip zeigte große Begeisterung, kaute vernehmlich und wischte sich den Mund mit einem Stück Küchenrolle ab. Mama war hin und weg.
    Wir hatten uns alle zusammen auf die Bank in der Küche gequetscht. Rip klemmte zwischen meinem Vater und der Ecke. Ich saß mit Mama auf der anderen Seite.
     
    Papa: (Immer noch argwöhnisch.) Und was machen Sie so?
    Rip: (Plötzlich mit einem Anflug von Panik im Gesicht.) Ich bin in der Ausbildung ... (Er sucht meinen Blick) ... Pariser ...
    Ich: (Was ist los? Warum benimmt er sich so komisch?)
    Mama: (Vom Herd. Beeindruckt.) Das klingt interessant.
    Rip: ... zum Rechtsanwalt. (Dad nagt an einem Hühnerschenkel. Rip macht mir hinter dem Tisch Zeichen - eine Handbewegung, die ein bisschen an Wichsen erinnert.)
    Ich: (Stolz.) Heute vor Gericht hat er die Bergarbeiter verteidigt, Papa.
    Papa: (Fest entschlossen, sich nicht beeindrucken zu lassen.) Du meinst Jack Fairboys und Robbie Gummer?
    Rip: (Gibt mir unter dem Tisch einen Tritt.) Ja, Jack und Rob. Rob Gummer.
    Gummi.
    Papa: (Sieht ihn komisch an.) Sie wurden freigesprochen, oder?
    Rip: (Unbehaglich.) Absolut.
    Papa: (Konzentriert auf die Ketchupflasche.) Jungs sind Jungs. Hätten nie vor Gericht kommen sollen.
    Rip: (Unauffällige Wichsbewegungen unter dem Tisch.) Geringfügigkeit. Auf dem Boden. Beim Feuer. Die Gerechtigkeit hat gesiegt.
    Ich: (Der Groschen fällt.) Entschuldige Mama, ich ...
     
    Ich zwängte mich an ihr vorbei und rannte ins Wohnzimmer. Da lag es, auf dem Boden vor dem Kamin, glänzend und glitschig. Ich hob es auf und warf es in die Glut. Es zischte und roch kurz nach verbranntem Gummi. In der Küche hörte ich, wie Mama sagte: »Ich mag Männer mit gutem Appetit. Europides! Na so was!«
    Ich blickte auf, um zu sehen, ob Mrs. Shapiro den Witz verstanden hatte, doch ihre Augen waren geschlossen, und da erst merkte ich, dass sie längst eingeschlafen war.
    Als ich gegen drei nach Hause kam, war eine Nachricht von Mrs. Goodknee auf dem Anrufbeantworter. Wäre ich so nett, sie zurückzurufen? Eine blecherne, nichtjunge, nicht-alte Stimme. Ich rief an und landete auf ihrem Anrufbeantworter. Ich hinterließ eine Nachricht. Dann machte ich mir eine Tasse Tee und ging nach oben ins Schlafzimmer.
    Ich nahm die sechs Fotos aus meiner Tasche und breitete sie wie Spielkarten auf dem

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