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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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mitgebracht?«
    »Ich habe es versucht, aber er ist mir entwischt«, log ich.
    Ich wollte sie nach den Fotos fragen, aber ich hielt mich zurück, weil ich nicht zugeben wollte, dass ich mich bei ihr umgesehen und die versteckte Blechdose gefunden hatte. Ich würde die Geschichte irgendwie anders aus ihr herausholen müssen. Wir tranken starken bitteren Tee, der auf einem Wagen die Runde durch die Station machte, und aßen uns durch die Pralinenschachtel, die ich in meiner Rolle als nächste Angehörige mitgebracht hatte.
    »Mrs. Shapiro, ich mache mir Sorgen, dass Ihr Haus ... also ... meinen Sie nicht, es ist ein bisschen viel Arbeit für Sie allein? Wäre eine schöne gemütliche Wohnung nicht bequemer? Oder ein Wohnheim, wo sich jemand um Sie kümmern kann?«
    Sie sah mich mit schreckgeweiteten Augen an, als wollte ich sie mit einem Fluch belegen. »Warum sagen Sie so etwas, Georgine?«
    Es fiel mir schwer, höfliche Worte für den Gestank und den Dreck und den Grad des Verfalls ihres Hauses zu finden, also sagte ich einfach: »Mrs. Shapiro, die Krankenschwester denkt, dass Sie vielleicht zu alt sind, um allein zu leben.« Ich beobachtete ihr Gesicht. »Sie hat mir gesagt, Sie wären sechsundneunzig Jahre alt.«
    Ihr Mund zuckte. Sie blinzelte. »Ich gehe nirgendwohin.« »Mrs. Shapiro, wie alt sind Sie wirklich?« Sie ignorierte meine Frage.
    »Was würde aus meinen lieben Katzen werden?« Sie hatte auf stur geschaltet. »Wie geht es Wonder Boy? Das nächste Mal müssen Sie ihn mitbringen.«
    Ich erzählte ihr von Wonder Boy und dem Star - »Der ungezogene Junge!« - und von Violettas kläglichem Miauen - »Ach Gott! Immer singt sie die
Traviata!« -
und von der Katze, die sich nach oben geschlichen hatte, um bei ihr im Bett zu schlafen. »Das ist Mussorgski. Vielleicht ist es meine Schuld, denn ich erlaube es. Darlink, manchmal bin ich so einsam in der Nacht.«
    Sie sah mich an, und anscheinend las sie etwas in meinem Gesicht, denn sie sagte: »Sie sind auch einsam, Georgine, nich wahr? Ich sehe es in Ihren Augen.«
    Ich nickte widerstrebend. Ich war diejenige, die Fragen stellen sollte. Doch sie drückte mir die Hand. »Erzählen Sie mir von Ihrem Mann - dem, der weggelaufen ist.«
    »Ach, das ist eine lange Geschichte.«
    »Aber nicht so lang wie meine, oder?« Ein verschmitztes Lächeln. »War es Liebe auf den ersten Blick?«
    »Ja, das war es wirklich, Mrs. Shapiro. Unsere Augen haben sich in einem Raum voller Menschen gefunden.«
     
    Der Raum war ein Gerichtssaal in Leeds, wo gegen zwei Bergarbeiter aus Castleford wegen einer Rauferei an der Streikpostenkette verhandelt wurde. Rip war der Verteidiger; er war noch im Referendariat und arbeitete ehrenamtlich für das Chapeltown Law Centre. Ich arbeitete als junge Reporterin für die
Evening Post.
Nach der Urteilsverkündung - die Jungs wurden freigesprochen - gingen wir ins Pub, um auf den Erfolg anzustoßen. Später fuhr Rip mich nach Hause, und wir liebten uns vor dem Kamin im Bungalow meiner Eltern. Ich weiß noch, wie ich Witze über seinen Namen machte.
     
    Ich: (Vergrabe die Finger in seinen Locken.) Euripides, Teuripides, Feuripides ...
    Er: (Fummelt an meinem BH herum, sein Mund feucht an meinem Ohr.) Ja?
    Ich: (Ziehe ihn zu mir herunter.) Eureißides.
    Er: (Die Hand unter meinem Rock.) Eureißides?
    Ich: (Kichernd zwischen den Küssen.) Eureiß mir die Kleider vom Leib ...
     
    Was er auch tat. Es war seltsam, weil wir uns kaum kannten, und doch fühlte es sich an, als hätten wir uns schon immer gekannt.
    »Und Ihre Eltern, was haben sie gesagt? Sie waren wahrscheinlich ein wenig überrascht.«
    »Glücklicherweise hatten wir die Kleider wieder an, bis sie nach Hause kamen. Mama hatte er sofort um den Finger gewickelt. Er konnte wirklich charmant sein. Mein Vater hielt ihn für einen Klassenfeind. Rip kam nämlich aus einer wohlhabenden Familie, und ich hatte Angst, dass er sich vielleicht wie ein Snob aufführen würde. Aber er war nett ... und respektvoll.«
    Sie wackelte ungeduldig mit dem Kopf. »Erzählen Sie mehr von der Liebe.«
    »Also ...« Bei den Erinnerungen bekam ich einen Kloß im Hals. »Man könnte sagen, es ist die stürmische Geschichte einer verbotenen Liebe zwischen einem Beinahe-Aristokraten und einem einfachen Mädchen aus einer Bergarbeiterstadt.« Sie nickte. »Das ist ein guter Anfang.«
     
    Sie kamen vom Wohlfahrtsverein der Bergarbeiter in Castleford zurück - von der Abschiedsfeier eines Kumpels. Dort hatten sie

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