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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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Boden vor dem Fenster aus. Stirnrunzelnd setzte ich mich daneben und versuchte mir die Geschichte zusammenzureimen, die es dazu geben musste.
    Auf dem ersten Foto die Familie Shapiro mit Artem als Kleinkind, aufgenommen im Jahr 1905. Dann das Hochzeitsfoto - eine andere Frau. Vor Naomi musste Artem Shapiro mit einer anderen Frau verheiratet gewesen sein. Auf einem anderen Foto dasselbe Paar, Artem mit der geheimnisvollen Frau, vor einem Brunnen. Im Hintergrund liegt Schnee. Er trägt eine Mütze, die er sich tief ins Gesicht gezogen hat, raucht eine Zigarette und grinst in die Kamera. Sie trägt einen taillierten Mantel und eine kokett schiefsitzende Baskenmütze und blickt zu ihm auf. Auf der Rückseite war etwas geschrieben:
Stockholm Drott...
Den Rest des Worts konnte ich nicht lesen.
    Dann war da ein Gruppenfoto, ein Mann und vier Frauen in eleganter Abendkleidung, die um einen Flügel herum sitzen.
Familie Wechsler, London 1940
stand auf der Rückseite. Ich sah näher hin, doch die Gesichter waren zu klein, um etwas Genaueres zu erkennen. Auf einem weiteren Foto erkannte ich Canaan House mit der Araukarie im Hintergrund, die viel kleiner war als heute. Zwei Frauen stehen auf der Veranda. Die größere sieht aus wie die braunäugige Frau von dem Hochzeitsfoto. Die andere, lockig und elfenklein, erkannte ich nicht. Ich drehte das Foto um. Auf der Rückseite stand
Highbury 1948.
Ich sah näher hin -auch wenn die Gesichtszüge unscharf waren, kam mir die trotzige, breitbeinige Pose der schmächtigeren Frau bekannt vor. Ich erinnerte mich an die schmale, knabenhafte Silhouette im Schein der Straßenlaterne, als sie den Müll durchwühlte. Naomi. Sie waren also zusammen in Canaan House gewesen, sie hatten einander gekannt.
    Ich sah die größere Frau auf einem weiteren Foto wieder; diesmal war sie allein, in einem Blümchenkleid unter einem steinernen Torbogen, und blinzelte mit ihren dunklen Augen lächelnd in die Sonne. Auf der Rückseite stand
Lydda 1950.
Ein schöner Name, dachte ich, für eine schöne Frau. Doch wer war sie?
     
    Unten schlug die Tür zu; das ganze Haus zitterte. Es war halb fünf, und Ben kam von der Schule. Ich hörte den dumpfen Knall, als er die Schultasche im Flur fallen ließ, das Rascheln seines Parkas, der daneben landete, und das Poltern auf der Treppe. Ein paar Minuten später hörte ich das Windows-Begrüßungsgebimmel seines Computers. Er hatte nicht mal hallo gesagt. Ich hatte das Gefühl, als ob sich etwas in meinem Brustkorb löste und gegen mein Herz klatschte. Ich schob die Fotos zusammen, ging hinunter in die Küche, machte zwei Tassen Tee und brachte sie nach oben. Dann klopfte ich an seine Tür, und als er nicht antwortete, stieß ich sie mit dem Fuß auf. Ben saß am Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm. Ich erhaschte einen kurzen Blick - rote Schrift flackerte auf einem schwarzen Hintergrund. Ein einzelnes Wort, von weißen Flammen umlodert:
Armageddon.
Mit einem Mausklick schaltete sich der Microsoft-Himmel ein.
    »Ben ...«
    »Was ist?«
    »Was hast du, mein Schatz?« »Nichts.«
    Ich wuschelte ihm durch die Haare. Bei der Berührung zuckte er mit dem Kopf, und ich zog die Hand weg. »Es ist normal, dass du wütend bist, Ben. Es ist für uns alle eine schwere Zeit.« »Ich bin nicht wütend.«
    Er starrte immer noch schweigend den Bildschirm an, die Hände zu Fäusten geballt vor der Tastatur, als wartete er darauf, dass ich wieder ging. Das blaue Licht des Bildschirms fiel auf seine Wange und Oberlippe, auf der der Schatten eines weichen Flaums lag.
    »Ist es die Schule? Wie ist deine neue Klasse?« »Okay. Cool.«
    Der Umzug von Leeds nach London war schwer für Ben gewesen. Er hatte es nicht gut verkraftet, aus dem Kreis seiner Freunde herausgerissen zu werden, die er zum Teil noch aus dem Kindergarten kannte, und sich in den ungastlichen Kreisen seiner neuen Nordlondoner Gesamtschule durchschlagen zu müssen. Er brachte nie Freunde mit nach Hause. Die wenigen Male, wenn er später als gewöhnlich von der Schule kam, murmelte er etwas von einem Typen namens Spike, mit dem er zusammen gewesen war. Spike - was war das für ein Name? Auch wenn ich vor Neugier brannte, war ich klug genug, ihn nicht nach Details auszuquetschen.
    »Was möchtest du zum Abendessen, mein Schatz?«
    »Irgendwas. Spaghetti.«
    »Schön. In einer halben Stunde?«
    »Ich komme runter, Mum. Okay?«, sagte er, ohne aufzusehen, in einem Ton, der hieß: »Lass mich in Ruhe.«
    Ich ging in die

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