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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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Pass, hellblau mit einem schwarzen Streifen in der Ecke. Artem Shapiro; Geburtsdatum 13. März 1904; Geburtsort Orscha; Ausstellungsdatum 4. März 1950, London. Bezugsscheinheft: Artem Shapiro 1947. Führerschein: Artem Shapiro 1948. Lebensversicherung bei Abbey National: Artem Shapiro 1958. Totenschein: Artem Shapiro 1960; Todesursache: Lungenkrebs. Weil ich seine Geschichte kannte, war ich seltsam berührt, als ich den maschinenbeschriebenen Durchschlag in der Hand hielt. So hatte seine Reise also geendet: das Ghetto, das Stacheldrahtlager, die stillen Wälder, der gefrorene See. Ich faltete den Totenschein zusammen und steckte ihn zurück in den Umschlag, und hoffte, Artem war im Schlaf gestorben und großzügig mit Morphium versorgt gewesen.
    Doch was war mit ihr? Ein Co-op-Sparbuch war das einzige Dokument, das ihren Namen trug: Mrs. N. Shapiro 13. Juli 1972. Irgendwo muss mehr sein, dachte ich; und ich erinnerte mich an ihre Worte -
Aber nur in den Sekretär schauen.
Wenn sie irgendetwas versteckt hatte, dann bestimmt nicht hier.
    Von Neugier gepackt sah ich mich in den anderen Zimmern um. Im Sideboard im Esszimmer, wo ich den ungenießbaren Fisch genossen hatte, fand ich nur Teller und Besteck. Im Wohnzimmer war es dunkel, auch hier waren die Fenster verbarrikadiert, und der Lichtschalter funktionierte nicht. Ich hätte eine Taschenlampe gebraucht, um hier zu suchen. Hinter dem Kinderwagen unter der Treppe war eine schmale Tür, die zu einer steinernen Kellertreppe führte. Als ich sie öffnete, kam mir ein Schwall eingeschlossener modriger Luft entgegen. Ich tastete an der Mauer nach dem Lichtschalter, und dann strahlte blinzelnd eine Neonröhre auf, deren wildes Flackern den niedrigen Raum abwechselnd in gleißendes Licht und tintenschwarze Finsternis tauchte.
    Es schien eine Art Werkstatt zu sein. An der Wand hing eine Vitrine mit ordentlichen Reihen von Werkzeugen, deren Klingen mit Rost überzogen waren. Darunter befand sich eine Werkbank mit Schraubzwingen in verschiedenen Größen. An Haken hingen seltsam geschwungene Holzstücke. Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass es sich um Teile von noch nicht fertiggestellten Violinen handelte. Auf der Werkbank stand ein Topf mit eingetrocknetem Leim, in dem ein kleiner eingetrockneter Pinsel steckte. Der Leim war klar und bernsteinfarben und verströmte immer noch einen schwachen, süßlichen Geruch. Tierleim. Biopolymere. Wurde für Holzarbeiten, Furniere und Intarsien verwendet, bevor es bessere, moderne synthetische Klebstoffe gab.
    Nathan, mein Chef, hatte mir erzählt, dass die Nazis aus Menschenknochen Leim gemacht hatten. Lampenschirme aus Menschenhaut; Matratzen, die mit Menschenhaar gefüllt waren. Nichts wurde verschwendet. Mir wurde schwindelig. Vielleicht war es der Stroboskopeffekt der kaputten Neonröhre oder die Erinnerungen, die in der von Geistern geatmeten Luft gefangen waren.
    Ich ging die steinerne Treppe wieder hinauf. Erst als ich mich noch einmal umdrehte, um auf den Lichtschalter zu drücken, fiel mir etwas Farbiges oben auf der Werkzeugvitrine auf - ein paar Millimeter Blau, das über der Zierleiste hervorstand. Neugierig kehrte ich nach unten zurück, stellte einen Stuhl vor die Werkbank und sah nach. Es war eine längliche, angerostete Blechdose mit einem Bild von Harlech Castle vor einem unwahrscheinlich blauen walisischen Himmel. Ich nahm die Dose und öffnete sie. Es war eine Toffee- oder Keksdose, doch jetzt lagen Fotos darin. Ich klemmte sie mir unter den Arm und ging zurück nach oben ans Licht.
    In der Eingangshalle wand sich die breite Treppe mit dem geschwungenen Mahagonigeländer in den ersten Stock. Ich ging die Stufen hinauf, und aus dem fadenscheinigen, mit Messingstangen gehaltenen Axminster-Teppich stob bei jedem Schritt eine Staubwolke auf. Von der Galerie im ersten Stock, zu der das Mahagonigeländer führte, gingen neun Türen ab. Eine war einen Spalt geöffnet. Ich schob sie auf. Etwas huschte vorbei. Zwei dürre Katzen schössen zwischen meinen Beinen hindurch. Das Zimmer war groß und hell, mit einem Doppelfenster zum Vorgarten, und wurde von einem massiven Art-deco-Bett aus Nussbaumholz beherrscht, auf dem ein Kater mit zerrupften Ohren - er wirkte so mottenzerfressen wie Mrs. Shapiros Persianer - zusammengerollt schlief. Als ich das Zimmer betrat, hob er den struppigen Kopf und folgte mir mit den Augen. Es stank entsetzlich. Puh! Ich öffnete das Fenster. »Sch! Sch! Verpiss dich!« Ich versuchte den

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