Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise
Afrikanerinnen eindeutig in der Überzahl. Zwar war die Kenya High School nun »afrikanisch besetzt«, was aber noch lange nicht hieß, dass die dort geltenden Regeln auch auf Afrikanerinnen zugeschnitten waren. Im Gegenteil: Wir waren es, die sich den aus der Kolonialzeit stammenden Vorschriften anzupassen hatten. Zum Beispiel durften wir unser nur schwer zu bändigendes krauses Haar nicht flechten, obwohl das Flechten uns ein gepflegteres Aussehen gab und das schmerzhafte morgendliche Kämmen ersparte. Auch durften wir in dieser Schule unsere jeweilige Muttersprache nicht sprechen. Ebenfalls war uns untersagt, den penibel gepflegten Rasen des Schulgeländes zu betreten, und ein Herumrennen war sowieso grundsätzlich überall verboten. Manchmal hatte ich das Gefühl, man wollte uns zu kleinen Engländerinnen erziehen.
Im Großen und Ganzen aber störten mich all diese Bestimmungen nicht weiter. Bereits in meiner Grundschule, der Kilimani Primary School, die genau wie die Kenya High School eine ehemalige Lehranstalt für weiße Kinder war, hatte man mich gewissermaßen darauf vorbereitet. Schon dort mussten wir Unmengen von Vorgaben befolgen, die denen später auf dem Mädcheninternat geähnelt hatten. Dies führte dazu, dass viele Kenianer und Kenianerinnen meiner Generation ihre Muttersprache nicht beherrschen oder sie sich ihre Haut und ihre Haare mit Chemikalien zerstörten, nur um ihr Aussehen der »englischen« Norm anzupassen.
Der Vollständigkeit halber soll noch erwähnt werden: Bevor ich auf die Kilimani Primary School kam, hatte ich über ein Jahr lang noch eine andere, ebenfalls vom englischen System geprägte Grundschule besucht, die Mary Hill Primary School. Das von katholischen Nonnen geführte Internat lag etwas außerhalb von Nairobi, in Thika, und galt damals als eine der besten Mädchenschulen des Landes. Dort war ich als Sechsjährige eingeschult worden, und das nicht ohne Grund: Mein Vater hatte die gleichen hohen Ansprüche wie die anderen Mitglieder der kleinen Gruppe »Auserwählter«, die damals als erste Generation von Kenianern ein Studium in den USA oder Europa absolviert hatten. Sie stellten gewissermaßen die Hoffnung der Nation dar. Und ihnen allen war es wichtig, dass ihre Kinder die bestmögliche Schulbildung erhielten.
Zur Mary Hill Primary School gingen die Töchter vieler prominenter Kenianer, zum Beispiel auch die des für die kenianische Geschichte bedeutsamen Politikers Tom Mboya. Mboya war ein führender Luo-Politiker und 1960 einer der Begründer der Kenya African National Union ( KANU ), jener Partei, die Kenia in die Unabhängigkeit führte. Später war er der erste Minister für »Wirtschaftsplanung und Entwicklung«. Unsere Familien waren damals eng miteinander befreundet. Zu Beginn jedes Schultrimesters fuhr ich entweder mit den Mboyas zur Schule oder wir nahmen deren Tochter mit. Auch ein paar andere Mädchen stiegen ins Auto zu, da sich unsere Eltern mit den langen Hin- und Rückfahrten zur Schule untereinander abwechselten.
Ich sehe uns Mädchen noch zu viert oder fünft zusammengepfercht in einem dieser Wagen sitzen. Vor allem ein Auto habe ich deutlich vor Augen, es war ein Citroën, ein damals hochmodernes und todschickes Modell mit langer, breiter Schnauze, das ungewöhnlich tief lag. Hinten, wo wir Kinder Platz nahmen, schien das Gefährt geradezu den Boden zu berühren. Auf der breiten Rückbank hatte ich stets das Gefühl, fast auf der Straße zu sitzen. Ich konnte kaum aus dem Fenster blicken, und mir war, als würde ich mich in einer jener großen kreisenden Tassen eines Jahrmarkt-Karussells befinden. Zugleich erinnerte mich der Citroën aber auch an die riesigen Bottiche, in denen die größeren Mädchen uns jüngere Schülerinnen täglich im großen Waschraum der Schule wuschen.
Die Mary Hill Primary School wurde von den Missionsschwestern des Ordens »Our Lady of Africa« geführt, der sich 1907 in Kenia niedergelassen hatte. Diese Bildungsstätte nahm in erster Linie Kinder aus kulturell gemischten Familien auf. Denn während in Kenia damals die einzelnen kulturellen Gemeinschaften (Europäer, Asiaten, Afrikaner) ihre eigenen Schulen hatten, wurde hier der einzigartige Versuch unternommen, sie zu integrieren.
Im Vordergrund stand in dieser Schwesternschule natürlich die religiöse Erziehung. Man war sehr darauf bedacht, brave, gläubige Katholikinnen aus uns zu machen, das verlangte schon der missionarische Anspruch. Regelmäßig mussten wir zur
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