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Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise

Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise

Titel: Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Auma Obama
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Kirche gehen, und kein Tag verging ohne irgendeine religiöse Verrichtung. Eine Frage bleibt für mich aber bis heute: Als was hatte mich mein Vater, der meines Wissens nie gläubig war, in dieser Schule angemeldet? Wie war es möglich, dass ich als konfessionsloses Kind dort aufgenommen wurde?
    Es wurde nicht von uns Nicht-Katholiken erwartet, zur Beichte zu gehen, doch erinnere ich mich gut daran, dass die Teilnahme an der Sonntagsmesse Pflicht war. Nach der Kirche gingen wir mit dem Priester auf dem Friedhof umher, wobei wir Nüsse aufsammelten, die dort von großen Bäumen gefallen waren. Obwohl ich diese Spaziergänge in schöner Erinnerung habe, schaudere ich noch heute ein wenig bei dem Gedanken, wir könnten auf jenen Friedhofsalleen zu Nüssen gewordene Leichenreste verspeist haben.
    Ganz in britischer Tradition trugen wir eine Schuluniform. Aber auch am Wochenende war Einheitskluft Pflicht: So gab es eine Samstagsuniform und eine zweite für den Kirchgang am Sonntag. Wie allen Erstklässlern wurde mir eine Schülerin aus der Oberstufe als »große Schwester« zugeteilt. Sie musste auf mich aufpassen und mir bei Alltagsdingen wie bei dem schon erwähnten Waschen oder Anziehen helfen.
    Rückblickend habe ich den Eindruck, dass an der Mary Hill Primary School alles und jedes durch strenge Vorschriften geregelt war. Permanent wurden wir beaufsichtigt und laufend mit irgendetwas beschäftigt. Und mir ist, als hätten wir nicht eine Minute einfach nur das machen dürfen, was wir wollten.
    Anders als in vielen westlichen Ländern ist in Kenia, seit der Einführung des britischen Schulsystems, der Besuch eines Internats besonders für Gymnasiasten üblich. Die besten kenianischen Schulen waren und sind auch heute noch Internate. Dass ich bereits als Erstklässlerin einen der heiß begehrten Plätze an einer solchen Schule bekommen hatte, wusste ich mit meinen sechs Jahren allerdings nicht zu schätzen. Ich wollte viel lieber zu Hause bleiben.
    Ich brach in Tränen aus, als meine Eltern mich zum Internat brachten und sich von mir verabschiedeten. Noch lange nach ihrer Abreise konnte ich mich nicht beruhigen, und besonders in der ersten Zeit litt ich unter entsetzlichem Heimweh – sehr zur Enttäuschung meines Vaters. In vielen Nächten weinte ich mich in den Schlaf. Damals habe ich so viele Tränen vergossen, dass mein Vater mehrmals in der Schule erscheinen musste, um mir ein neues Kopfkissen vorbeizubringen. Bei diesen Kurzbesuchen aber ließ man mich nur selten zu ihm, obwohl ich mich so schrecklich nach ihm und der Familie gesehnt hatte. Ich sehe mich noch heute am Fenster des Schlafsaals stehen, sehe, wie er davonfährt und ich ihm nachschaue, erneut in Tränen aufgelöst.
     
    Die Ursache meiner Anpassungsschwierigkeiten lag vermutlich nicht nur darin, dass ich noch so jung war. Die Tatsache, dass in dieser Zeit mein kleiner Bruder Okoth geboren wurde, muss mich sehr beschäftigt haben. Ich, die Kleinste, verlor plötzlich mit der Ankunft eines jüngeren Bruders meine Stellung als Nesthäkchen in der Familie. Durch den Umzug ins Internat hatte ich obendrein mein Zuhause verlassen. Mit Sicherheit fühlte ich mich verstoßen. Dazu kam, dass auch die Trennung von meiner leiblichen Mutter Kezia zwei Jahre zuvor – als ich erst vier Jahre alt war – ihre Spuren hinterlassen hatte. So erlebte ich den Aufenthalt in der Mary Hill Primary School als doppeltes Fortgerissenwerden aus einer vertrauten Umgebung: Ich hatte von meiner leiblichen Mutter und von meiner zweiten Mutter, der amerikanischen Ehefrau meines Vaters, fortmüssen.
    Das streng geregelte Internatsdasein war für mich Furcht einflößend. Im Unterricht waren es die Nonnen, die mir Angst machten. Ich meine mich zu entsinnen, dass sie uns drohten, falls wir nicht brav seien, uns in einen »Kerker« zu sperren. Ob dieser Kerker wirklich existierte, wusste keines von uns Kindern genau, aber unsere Furcht davor war so groß, dass wir es lieber gar nicht erst herausfinden wollten. Aus lauter Panik traute ich mich oft nicht einmal während des Unterrichts zu fragen, ob ich auf die Toilette gehen dürfte. Einmal wartete ich damit so lange, bis plötzlich zu meiner Verzweiflung ein warmes Bächlein an meinen Beinen entlang auf den Boden floss.
    Im Wohnbereich erging es uns aber nicht viel besser. Auch dort waren wir von Ordensschwestern umgeben, die uns mit Argusaugen überwachten. An beiden Enden des Schlafsaals hing jeweils ein Kruzifix an der Wand, und

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