Das Leben nach dem Happy End
er.
»Funder«, wiederholte ich.
»Hatte Halland Familie, Eltern, Geschwister – Kinder?«, fragte er.
»Nein …«, sagte ich, zögerte, überlegte. »Es ist kompliziert. Aber sie sind tot, glaube ich. Er hatte keinen Kontakt mehr mit seiner Schwester, als sie starb.«
»War Halland verheiratet, bevor er Sie kennenlernte?«
»Warum fragen Sie mich das?«, fragte ich. »Nein.«
Er wirkte enttäuscht.
»Er kann doch wohl nicht gesagt haben, seine Frau hätte ihn erschossen. Was sagte er denn genau, könnte dieser Bjørn ihn denn nicht missverstanden haben? Warum sah er nicht, wer auf ihn schoss?«, sagte ich.
»Er wurde mit einem Jagdgewehr erschossen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Das konnte man am Schuss hören, und man kann es am Einschussloch sehen. Außerdem wurde er aus großer Entfernung erschossen. Bjørn hat es nicht gesehen, und Halland sah nicht, wer schoss.«
»Aber warum dann? Warum sagte er dann so was?«
»Ja, warum?«, fragte Funder. »Besaß einer von Ihnen ein Jagdgewehr?«
Nein, wir haben keine Waffen.
Nein, ich hatte Halland nicht erschossen.
Nein, ich hatte Halland seit gestern Abend nicht gesehen.
Nein, ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand Halland hatte umbringen wollen. Keine Feinde, die hat man nur im Film. Erschossen wird man auch nur im Film. Und was wusste ich schon über Hallands Leben außerhalb dieses Hauses?
»Und wünschst du von Verlust und Trauer frei zu sein, darfst du nichts lieben hier auf Erden«, sagte ich.
Die Ordnungshüter hoben ihre Köpfe und sahen mich an.
»Ludvig Bødtcher?«, sagte ich.
3
»Zwei Empfindungen stritten in mir,
das weiß ich noch, am besten
behalte ich widersprüchliche Empfindungen im Gedächtnis.«
Leibhaftig , Christa Wolf
Sie wollten sich unser Auto ansehen, und ich nahm meine Schlüssel vom Haken in der Küche. Auf dem Weg durch den Flur deutete ich auf Hallands Jacke. Die Aktentasche stand auch da. Sie steckten ihre Hände in die Jackentaschen, öffneten die Aktentasche, sahen hinein und stellten sie zurück.
Im Auto war nichts zu finden. Eine leere Plastikkiste im Kofferraum, die immer dort stand, Hallands Gummistiefel, sein Vogelbuch, eine Decke auf der Rückbank, ein Straßenatlas im Handschuhfach, eine Taschenlampe und ein kleines Fernglas. »Er war ja heute auch gar nicht am Auto«, sagte ich. Das konnte ich zwar nicht wissen, aber so musste es gewesen sein.
Nachdem sie gegangen waren, legte ich mich im Wohnzimmer auf den Boden. Es gab keine anderen Plätze, an denen ich sein konnte, alle Möbel waren falsch. Ich lag einfach nur da, wartete, war leer, wagte es nicht zu denken, doch die Gedanken überschlugen sich, dann war es wieder still, leer, mir war übel und schläfrig zumute, doch ich starrte nur vor mich hin. Unter der Decke hingen Spinnweben, stellte ich fest, das einzig annähernd Konstruktive, das sich in meinem Kopf abspielte, und konstruktiv war es trotzdem nicht, denn ich stand nicht auf, um sie zu entfernen. Auch kam mir der Gedanke, dass ich eine Fotografie von Halland als Kind finden müsse. Ich wusste, dass es irgendwo ein paar wenige davon geben müsste, unter anderem eine, wo er im Sommerurlaub neben einem Zicklein stand. Ich erinnere mich daran, dass er das Wort Zicklein verwendete, wenn er das Bild betrachtete. Ich überlegte, wo es sein könnte, in einem Album klebte es nicht, wo konnte es also liegen, welche Verwahrungsorte hatte Halland, warum hatte ich es überhaupt gesehen, ich rekonstruierte einige Situationen, in denen er das Bild in der Hand gehalten hatte, ich tauchte in sie hinein, Essenstafel, einige Gäste: das Bild, ein Lachen. Frühstückstisch in der Küche, Zeitung, Kaffee, lange Mähne: ein Traum, nacherzählt – und das Bild. Was war das für ein Traum, was hatte er geträumt, hatte ich zugehört? Doch ich stand nicht auf, um zu suchen. Ich lag. Nach einigen Stunden kehrten sie zurück, und ich fuhr mit ihnen. Auf dem Weg aus der Stadt hörte ich durch das heruntergekurbelte Fenster die Lerche, sie erfüllte mich mit einer jähen Freude und kurz darauf mit Entsetzen über diese Freude, ich sagte nichts, und auch die anderen schwiegen.
Halland lag allein in einem kahlen Raum, über ihm ein Laken, er sah aus wie er selbst und doch fremd, genau wie zuvor. Ich kannte ihn und kannte ihn nicht, ich war sein und er war mein und wir waren es nicht. Auch ich war allein im Raum, ich legte vorsichtig meine Hand an seine Wange, eine Bewegung, die ich häufig ausgeführt hatte, wenn er
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