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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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hatte. Dass Jim es nach all den Jahren ansprach (es für sich forderte!), war etwas so Ungeheuerliches, dass es Bob völlig aus der Bahn warf. Wenn er nun durch den Park ging, kam es ihm vor, als hätte er jahrelang geschlafen und wäre an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit aufgewacht. Die Stadt war reich und sauber und voller junger Leute in engen Sporthosen, die ihn bei seinen gemächlichen Runden um das Wasserreservoir laut trappelnd überholten.
    Tatsache war: Er wusste nicht, was er tun sollte.
    Auf ihrem Rückflug von Shirley Falls vor zwei Monaten hatten er und Jim über Zach und Zachs Vater gesprochen, darüber, was passieren würde, falls Zach nicht im Lande war, wenn der Bundesanwalt Anklage gegen ihn erhob; die Verhandlung in Shirley Falls war nun für den Juni angesetzt, und sie waren sich einig, dass hier alles von der Auswahl der Geschworenen abhängen würde. Sie saßen schon im Taxi nach Brooklyn, als Bob schließlich sagte: »Äh, sag mal, Jim – die Geschichte gestern: Das war einfach nur die Aufregung, oder? Wie dieser Blödsinn letzten Herbst über Pam. Du wolltest nur provozieren, stimmt’s?«
    Jim sah weg, hinaus auf die Schnellstraße, die vor dem Fenster vorbeiflog. Er berührte ganz leicht Bobs Hand, nahm dann seine Hand weg. »Du warst es nicht, Bobby«, sagte er leise.
    Danach schwiegen sie. Das Taxi setzte Bob zuerst ab. Beim Aussteigen sagte er: »Jimmy, mach dir keinen Kopf wegen der Sache. Es spielt doch inzwischen keine Rolle mehr.«
    Dennoch stieg er wie in Trance die schmale Treppe mit ihren durchhängenden Stufen hinauf, vorbei an der Tür, hinter der früher seine Nachbarn ihren Ehekrieg ausgetragen hatten. Seine eigene Wohnung hatte etwas Irreales für ihn. Aber da waren seine Bücher, seine Hemden im Schrank, ein zusammengeknülltes Handtuch neben dem Waschbecken. Bob Burgess wohnte hier, natürlich wohnte er hier. Trotzdem, das Gefühl von Unwirklichkeit war beängstigend.
    Nach ein paar Tagen dann setzte die Qual ein. Sein Verstand, fahrig und sprunghaft, sagte ihm: Es ist nicht wahr, und falls doch, spielt es keine Rolle mehr. Aber der Gedanke brachte keine Erleichterung, weil er sich durch die ständige Wiederholung selbst widerlegte. An seinem Raucherplatz am offenen Fenster stürzte er eines Abends viel zu schnell viel zu viel Wein in sich hinein und sah plötzlich in aller Klarheit: Es war wahr, und es spielte eine Rolle. Jim hatte Bob wissentlich und vorsätzlich in einem Leben eingekerkert, das nicht das seine war. Erinnerungen stürmten auf ihn ein: Jimmy als kleiner Junge, der zu dem herbeirennenden Bob sagte: »Ich muss kotzen, wenn ich dich sehe. Hau ab.« Die sanfte Ermahnung ihrer Mutter: »Ach, Jimmy, sei doch lieb zu ihm.« Und dann der Therapeut, zu dem seine Mutter ihr weniges Geld trug, nur damit Bob aus einer Schale auf seinem Schreibtisch Bonbons naschen durfte. Und wieder daheim, hinterm Rücken ihrer Mutter, Jimmys Gestichel: »Bobby ist ein Baby! He, Hosenscheißer-Baby! Sabber-Schlabber-Goofy!«
    In seinem Zustand betrunkener Klarsicht kam Bob sein Bruder plötzlich vor wie die Skrupellosigkeit und Schurkenhaftigkeit in Person. Mit hämmerndem Herzen zog er seine Jacke über. Er würde zu ihm gehen und ihm seine ganze Wut ins Gesicht schreien, notfalls auch vor Helen; nicht einmal die Wohnungstür sperrte er hinter sich zu vor lauter Eile. Auf der untersten Stufe der schmalen Stiege fiel er hin, und im Liegen erfasste ihn unendliche Verwunderung. »Komm schon, Bob Burgess, steh auf«, sagte er leise. Aber irgendwie ging es nicht. Jeden Moment, dachte er, konnte einer der anderen Mieter – sie waren alle so jung hier im Haus – herauskommen und ihn so finden. Er musste sich von einer Schulter auf die andere wälzen und mit viel Schwung von dem körnigen Läufer wegstemmen, bis er endlich auf die Füße kam. Am Geländer entlang hangelte er sich wieder hinauf zu seiner Wohnung.
    Danach ließ er das Trinken sein.
    Als Tage später sein Telefon klingelte und auf dem Display der Name seines Bruders erschien, war die Welt mit einem Schlag wieder im Lot. Was konnte natürlicher sein, als dass auf seinem Telefon J IM aufleuchtete?
    »Du, hör mal«, setzte Bob an. »Jim, hör zu …«
    »Du wirst es nicht glauben«, fiel Jim ihm ins Wort. »Halt dich fest: Die US -Bundesanwaltschaft hat Charlie gerade eben mitgeteilt, dass das Verfahren gegen seinen Mandanten eingestellt ist. Der Hammer, oder? Wahrscheinlich weil diese BSE -Verordnungen eben doch

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