Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
sich an den Ecken an, und samstags sah man hier Fußgänger auf dem Weg zum Park. Babys rollten in Buggys dahin, die so schnittig wie Sportwagen waren, mit wendigen Gummirädern und verstellbaren Aufsätzen. Falls den Eltern Sorgen oder Enttäuschungen zu schaffen machten, verrieten ihre gesund blitzenden Zähne und gebräunten Gliedmaßen davon nichts, wenn die Einsatzfreudigeren unter ihnen über die Brooklyn Bridge joggten oder bladeten – da kam er in Sicht, der East River, dann die Freiheitsstatue, dazu die Schlepper, die riesigen Frachtkähne, das endlos wimmelnde Leben – ein Wunder, jedes Mal aufs Neue.
Es war April, und auch wenn es noch ziemlich frisch war, strahlten die Forsythien in den Vorgärten um die Wette mit dem Himmel, der manchmal den ganzen Tag blau blieb. Der März hatte erst mit Rekordkälte aufgewartet, dann mit einem Rekordregen und später mit den schwersten Schneestürmen des ganzen Winters. Aber jetzt war der April da, und ungeachtet der Berichte, nach denen aus der Immobilienblase bereits die Luft entwich, war in Park Slope vorerst kein Schwund festzustellen. Die Spaziergänger im Botanischen Garten, die die Hügel voller Narzissen bewunderten und nach ihren Kindern riefen, wirkten zufrieden, unbekümmert. Und der Dow Jones kletterte, nachdem er zwischenzeitlich mächtig ins Schleudern gekommen war, auf einen neuen Höchststand.
Bob Burgess nahm von alledem kaum Notiz – weder von den Finanzmärkten und den düsteren Prophezeiungen noch von den Forsythien an der Bibliotheksmauer, den jungen Leuten, die auf ihren Rollerblades an ihm vorbeiflitzten. Er wirkte wie benommen, und genauso fühlte er sich. Von Menschen mit Gedächtnisschwund heißt es, dass durch den Verlust der Vergangenheit auch die Zukunft für sie unvorstellbar wird, und nicht unähnlich erging es nun Bob. Seine Fassungslosigkeit darüber, dass seine Vergangenheit womöglich gar nicht seine Vergangenheit war, trübte auch seinen Blick nach vorn, und er brachte viel Zeit damit zu, durch New Yorks Straßen zu laufen. In Bewegung zu sein half. (Man traf ihn auch nicht mehr in der Ninth Street Bar & Grill an, und er hatte zu trinken aufgehört.) An den Wochenenden spazierte er jetzt oft durch den Central Park in Manhattan, der dem Brooklyner Prospect Park den Reiz des weniger Vertrauten voraushatte, und mischte sich dort unter die vielen Touristen mit ihren Kameras, ihren Stadtplänen und fremden Sprachen, ihren Wanderschuhen, ihren müden Kindern.
»È bellissimo!«, hörte Bob eine Frau am Eingang zum Park ausrufen, und einen Moment lang sah er wie mit neuen Augen die mächtigen Baumstämme der Allee, die Radler, die Jogger, die Eisstände – so verändert alles seit damals, als Bob mit Pam hierhergezogen war. Koreanische Bräute mit nackten Schultern posierten fröstelnd für ihre Hochzeitsfotos. Bei der Treppe zum See gab es eine junge Frau, die sich jedes Wochenende mit Goldfarbe einsprühte und in Trikot, Strumpfhosen und Ballettschuhen reglos auf einer Holzkiste stand, während Kameras klickten und Kinder große Augen machten und nach der Hand ihrer Eltern fassten. Wie viel sie damit wohl verdiente? Der weiße Eimer vor ihrer Holzkiste füllte sich mit Scheinen, vielleicht ein paar Fünfern, vielleicht – er wusste es nicht – auch dem einen oder anderen Zwanziger. Aber das Schweigen, in das sie sich während dieser Stunden hüllte, schien dem Schweigen verwandt, das sich in Bob eingenistet hatte.
Und noch etwas war neu: die beunruhigende Vorstellung, fremd geworden zu sein an diesem Ort, der so lange sein Zuhause gewesen war. Ein Besucher war er nicht, aber er fühlte sich auch nicht als New Yorker. New York erschien ihm plötzlich als ein liebenswertes, verschachteltes Hotel, das ihn mit wohlwollender Gleichgültigkeit beherbergt hatte, und seine Dankbarkeit dafür kannte keine Grenzen. New York hatte ihm zudem über manches die Augen geöffnet, nicht zuletzt darüber, wie viel die Menschen reden konnten. Für die New Yorker war kein Thema tabu. Für die Burgess so ziemlich jedes. Bob hatte lange gebraucht, um zu begreifen, dass es sich dabei lediglich um einen kulturellen Unterschied handelte, und leichter als früher fiel ihm das Reden nach einem halben Leben in New York allemal. Aber nicht über den Unfall. Für den es in Bobs Denken nicht einmal einen Namen gab. Er war einfach dieses Loch im Fundament der Familie Burgess, dem sich Bob in der Praxis der gutherzigen Elaine ein paarmal stammelnd genähert
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