Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
größer war, wollte ich es aufschreiben und Mom den Brief zustecken, bevor ich in die Schule ging, dann hätte sie den Tag über Zeit gehabt, es zu verdauen. Sogar in Harvard dachte ich noch, dass ich ihr einen Brief schreibe. Aber es gab auch sehr viele Tage, an denen ich gedacht habe, nein, ich war das nicht.« Jim zuckte die Achseln, streckte die Beine aus. »Ich hab das nicht getan. Ganz einfach.«
»Du hast es ja auch nicht getan.«
»Himmelarsch, hör auf damit.« Jim zog die Knie wieder vor die Brust, sah hoch zu seinem Bruder. »Bitte. Erinnerst du dich, an dem Tag damals, als wir das von Zach und seinem Schweinekopf erfahren haben? Als ich gesagt habe, er muss sich freiwillig stellen, weil er es getan hat? Ein Burgess läuft nicht weg, wir sind keine Drückeberger. Das hab ich gesagt. Ausgerechnet ich.«
Bob sagte nichts. Aber jetzt hörte er das Brausen des Wassers, das über die Stufe im Fluss hinabstürzte. Und dann hörte er hinter sich im Zimmer das Telefon klingeln. Er stolperte nach drinnen, blieb mit dem Fuß an der Türschwelle hängen.
Susan schluchzte. »Nicht so schnell, Susie, ich versteh kein Wort.«
Jim war Bob ins Zimmer gefolgt und nahm ihm den Hörer ab, gleich wieder der alte, alles in die Hand nehmende Jim. »Susan. Ganz ruhig.« Er nickte, schaute zu Bob herüber, reckte den Daumen hoch.
Zachary war in Schweden bei seinem Vater, er hatte Susan vor ein paar Minuten angerufen. Er könne so lange bleiben, wie er wolle, hatte sein Vater gesagt, und Susan konnte gar nicht wieder aufhören zu schluchzen; sie hatte fest geglaubt, er wäre tot.
Sogar Mrs. Drinkwaters Wangen glitzerten, während sie sich, die Schürze um den Bauch, in der Küche zu schaffen machte. »Jetzt kann sie etwas essen«, sagte die alte Frau und zwinkerte Bob zu, als teilten sie ein Geheimnis.
Susan Augen waren fast völlig zugeschwollen, ihr Gesicht glänzte, aber sie war so außer sich vor Glück, dass sie ihre Brüder und Mrs. Drinkwater umarmte und den Hund gleich mit, der wie wild mit dem Schwanz wedelte. »Er lebt, er lebt, mein Sohn Zachary lebt.« Auch Bob bekam das Lächeln gar nicht mehr vom Gesicht. »Ach, ich bin viel zu glücklich, um zu essen«, sagte Susan, ging einmal um den Tisch herum, klopfte auf jede Stuhllehne. »Er hat sich zigmal entschuldigt, dass er mir Angst eingejagt hat, und ich hab gesagt, Schatz, mach dir doch keine Sorgen, Hauptsache, du bist wohlauf.«
»Sie stürzt schon noch ab«, prophezeite Jim auf der Rückfahrt ins Hotel. »Im Augenblick fliegt sie höher als ein Drachen, weil er nicht tot ist. Aber bald wird sie merken, dass er nicht mehr da ist.«
»Er kommt zurück«, sagte Bob.
»Wollen wir wetten?« Jim spähte über das Lenkrad.
»Darüber zerbrechen wir uns später den Kopf«, sagte Bob. »Lass sie glücklich sein. Mein Gott, ich bin auch glücklich.« Doch mit ihnen im Auto war auch das schreckliche Gespräch auf dem Hotelbalkon; wie ein unheimliches kleines Kind stocherte es mit dem Finger nach ihm und sagte: Vergiss mich nicht, ich bin auch noch da. Aber es erschien ihm nicht wirklich. Die Freude, Zach in Sicherheit zu wissen, ließ es irreal wirken, unwichtig. Als gehörte es nicht hier ins Auto, nicht in Bobs Leben.
Jim sagte: »Es tut mir leid, Bob.«
»Das war die Aufregung. Völlig verständlich. Mach dir keine Gedanken deswegen.«
»Nein, mir tut leid, dass … «
»Jim, hör auf. Es ist nicht wahr. Mom wäre dahintergekommen. Und selbst wenn es wahr wäre, was es nicht ist, wen interessiert das denn noch? Hör auf, dich so mies zu fühlen. Es macht mir Angst, wenn du so bist. Alles wird gut.«
Jim antwortete nicht. Sie fuhren über die Brücke, der Fluss unter ihnen schwarz in der Nacht.
»Ich kann gar nicht aufhören zu grinsen«, sagte Bob. »Zachary ist am Leben und bei seinem Vater. Und Susan, sie so zu sehen … Nein, ich kann gar nicht aufhören zu grinsen.«
Jim sagte leise: »Du stürzt auch noch ab.«
V IERTES B UCH
1
Park Slope expandierte in alle Richtungen. Seine Hauptstraße war und blieb die Seventh Avenue, aber auf der Fifth Avenue zwei Blocks weiter machte ein trendiges Restaurant nach dem anderen auf, Boutiquen verkauften modische Blusen, Yogahosen, Schmuck und Schuhe zu Preisen, die besser nach Manhattan gepasst hätten. An der Fourth Avenue, diesem Ödland aus Abgasen und Ruß, tauchten nun, plötzlich und überraschend, zwischen den alten Ziegelbauten Eigentumswohnungen mit riesigen Panoramafenstern auf, Bistros siedelten
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