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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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schloss die Augen. »Das ist dein Standardspruch zu allem und jedem. Gar nichts wird wieder.« Er öffnete die Augen, sah Bob an, schloss sie von Neuem. »Armer, dämlicher Goofy.«
    »Hör auf.« Bob spürte Zorn in sich aufsteigen.
    Jim öffnete wieder die Augen. Sie wirkten farblos, nur ein schwaches Blau glänzte hinter den Schlitzen. »Bobby.« Es war nicht viel mehr als ein Flüstern. Tränen liefen Jim übers Gesicht. »Alles an mir ist Lüge.«
    Er wischte sich mit den Händen übers Gesicht, als ein wütender Windstoß um die Mauerecke fegte. Unten bogen sich klappernd die Sträucher.
    »Komm rein«, sagte Bob leise. Er nahm seinen Bruder am Arm, aber Jim schüttelte ihn ab. Bob trat einen Schritt zurück und sagte: »Hör mal, woher hättest du wissen sollen, dass er angerufen hat?«
    »Bob, ich habe ihn getötet.«
    Der Wind fauchte und zerrte und bauschte Bobs Jackenärmel wie Zeltwände. Bob verschränkte die Arme vor der Brust, setzte die Schuhspitze fest auf die unterste Querstrebe des Geländers. »Wie hast du ihn getötet? Indem du auf einer Friedenskundgebung gesprochen hast? Indem du ihn mit Hingabe verteidigt hast?«
    »Nicht Zach.«
    Bob kam sein Fuß breit vor, als er auf ihn herunterschaute. »Sondern?«
    »Vater.«
    Er sagte es beiläufig und doch mit einer Art Feierlichkeit. Vater unser im Himmel. Bob brauchte eine Weile. Er drehte sich zu seinem Bruder um. »Unsinn. Ich saß hinterm Lenkrad, das wissen wir alle.«
    »Das denkt ihr alle.« Jims nasses Gesicht wirkte mit einem Mal sehr alt und faltig. »Aber du hast auf dem Rücksitz gesessen. Neben Susie. Du warst vier Jahre alt, Bob, du erinnerst dich an gar nichts. Ich war acht. Fast neun. Da weiß man schon mehr.« Jim lehnte nach wie vor an der Mauer, den Blick geradeaus gerichtet. »Es waren blaue Sitze. Du und ich, wir haben uns gestritten, wer vorne sitzen darf, und bevor er die Auffahrt runtergegangen ist, hat er noch gesagt: Okay, Jimmy vorne, die Zwillinge hinten, diesmal. Und dann bin ich nach links gerutscht, hinters Lenkrad. Obwohl sie uns tausendmal gepredigt hatten, dass wir hinterm Lenkrad nichts zu suchen haben. Ich hab den Fahrer gespielt und die Kupplung durchgetreten.« Kaum wahrnehmbar schüttelte Jim den Kopf. »Und das Auto ist losgerollt, die Auffahrt runter.«
    »Du bist betrunken«, sagte Bob.
    »Mom war noch nicht mal an der Haustür, da hatte ich dich schon auf den Vordersitz geschubst. Und bin selbst nach hinten geklettert. Und als dann schließlich die Polizei kam … Acht Jahre alt. Noch keine neun, und schon so ausgebufft. Ganz schön gruslig, was, Bobby? Wie in dem Film, Böse Saat .«
    Bob sagte: »Warum erfindest du bloß solche Geschichten, Jim?«
    »Ich erfinde keine Geschichten.« Jim hob langsam das Kinn. »Und außerdem bin ich stocknüchtern. Weiß auch nicht, warum.«
    »Ich glaube dir kein Wort.«
    Jims erschöpfte Augen blickten Bob mitleidig an. »Natürlich nicht. Aber du bist es nicht gewesen, Bobby Burgess.«
    Bob betrachtete den Fluss, der unter ihnen vorübertoste. Die Ufersteine wirkten groß und nackt. Aber es war alles unwirklich, verzerrt, leise. Selbst der laute Fluss schien leise, wie gedämpft, als hätte Bob den Kopf unter Wasser.
    »Und warum erzählst du mir das gerade jetzt?«
    Er schaute unverwandt auf den Fluss, und die leere Terrasse unter ihm.
    »Weil ich es nicht länger ertrage.«
    »Nach fünfzig Jahren erträgst du es plötzlich nicht mehr? Das ist doch verrückt, Jimmy. Ich glaube dir kein Wort. Sei nicht böse, aber du schnappst gerade über, und wir sind hier, um Susan zu helfen. Als wäre die Situation nicht schon beschissen genug. Herrgott, Jimmy, krieg dich wieder ein.«
    Die Brüder standen sich gegenüber, und der Wind fegte über sie hinweg, gewaltig und kalt. Jims Tränen waren versiegt. Er sah grau und krank und alt aus.
    Bob sagte: »Es war also ein Witz, ja? Das ist deine beknackte Vorstellung von makabrem Humor, oder? Du hast mir nämlich wirklich Angst eingejagt.«
    Ganz ruhig sagte Jim: »Es ist kein Witz, Bobby.« Er ließ sich an der Wand heruntersacken, bis er auf dem Beton des Balkonbodens saß, mit angezogenen Knien, über denen die Hände hingen. »Hast du irgendeine Ahnung, wie das ist?«, fragte er, den Blick zu Bob erhoben. »Die Jahre vergehen zu lassen, ohne jemals darüber zu sprechen? Als kleiner Junge hab ich immer gedacht, heute sag ich’s. Wenn ich aus der Schule komme, erzähle ich es Mom, ich erzähl’s ihr einfach. Später, als ich schon

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