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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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ihrer nächtlichen Träume nicht so sehr geschmälert wie überdeckt. Ganz blind war sie dabei nicht für die Schönheit ringsum, für das Sonnenlicht, das auf dem stillen See glitzerte, die kahlen Bäume – schön war es, das wohl, aber sinnlos und weit weg. Die meiste Zeit hielt sie den Blick auf die schlammigen Wurzeln gesenkt; der Pfad, unwegsam, weil von so wenigen Füßen beansprucht, erforderte ihre volle Konzentration. Vielleicht fand sie über diese Konzentration in den Tag.
    Vor Jahren, als sie an der Universität ihren späteren Mann kennengelernt hatte – sie in ihrem Abschlussjahr, er ein Studienanfänger aus der kleinen Mühlenstadt New Sweden ganz im Norden – , hatte er sie damit verblüfft, dass er transzendentale Meditation praktizierte, eine damals noch sehr junge Mode. Jeweils eine halbe Stunde morgens und abends durfte man ihn nicht stören, und sie hielt sich daran, nur einmal kam sie an einem Samstagvormittag ins Zimmer, als er mit leerem Blick im Schneidersitz auf dem Bett saß. »Gott, entschuldige«, stieß sie hervor und flüchtete, so peinlich berührt von dem Anblick, als hätte sie ihn beim heimlichen Onanieren ertappt – was ihr viele Jahre später tatsächlich passierte. Aber in der ersten Zeit ihrer Ehe verriet er ihr – ein Geschenk, ein Vertrauensbeweis, denn eigentlich durfte er es niemandem sagen – das Wort, das er bei seiner Meditation wiederholte, ein Wort, für das er einem Guru viel Geld gezahlt hatte, ein Wort, auf das der Guru Steves »Energien« ausgerichtet hatte. Das Wort war »Om«.
    »Om?«, sagte sie.
    Er nickte.
    »Das ist das Wort nur für dich?«
    Als sie sich jetzt wieder hinters Lenkrad setzte, auf den sonnengewärmten Sitz, dachte sie, dass sie damals womöglich gar nichts verstanden hatte und dass es kein so großer Unterschied war, ob man ins Leere starrte und »Om« dachte oder ob man einen Weg entlangging und sich auf den nächsten Schritt konzentrierte. Vielleicht meditierte Steve ja heute noch. Vielleicht hatte Zachary es von ihm übernommen. Sie konnte eine Mail schicken und ihn fragen. Nein, besser nicht. Ihre E-Mails waren zaghaft, höflich. Mutter und Sohn, die einander nie zuvor geschrieben hatten, mussten eine neue Sprache lernen, und beide waren zutiefst befangen dabei.
    Die Vermisstenanzeige bei der Polizei hatte eine kleine Zeitungsnotiz über Zachary Olsons Verschwinden zur Folge gehabt. Kurz darauf wurde gemeldet, Zachary halte sich im Ausland auf. Das stiftete Verwirrung unter den Stadtbewohnern, von denen einige der Meinung zu sein schienen, dass Zachary sich durch seine Flucht erfolgreich um seine gerechte Strafe gedrückt habe. Charlie Tibbetts durchbrach seine eigene Nachrichtensperre und stellte in einer Presseerklärung klar, dass Zachary nicht, wie von manchen behauptet, gegen seine Kautionsauflagen verstieß. Die Kaution war für ein Bagatellvergehen erhoben worden, und dafür war es nicht erforderlich, dass er im Lande blieb. Charlie teilte außerdem mit, dass die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen gegen seinen Mandanten eingestellt habe und dass diese Entscheidung zu respektieren sei.
    Polizeichef Gerry O’Hare für seinen Teil betonte, sein Anliegen sei die Sicherheit in der Gemeinde. Er ermutige auch weiterhin alle Bürger, Meldung zu machen, sobald sie sich in dieser Sicherheit in irgendeiner Weise bedroht fühlten. (Seiner Frau gegenüber gestand er Erleichterung ein. »Hauptsache, der Junge ist rechtzeitig zur Verhandlung wieder da. Oder er bleibt gleich ganz drüben. Diesmal sind wir mit einem blauen Auge davongekommen, die Stadt hat sich enorm gut geschlagen, aber einmal reicht.« Seine Frau sagte, es würde Susan das Herz brechen, wenn der Junge gar nicht mehr heimkam, aber irgendwie sei das ja auch ungesund gewesen mit den beiden, ob Gerry das nicht finde? Dieses ständige Aneinanderkleben.)
    Die Zeitungsmeldungen waren im Februar erschienen, und im April wurde der Name Zachary Olson kaum noch erwähnt. Einige der Ältesten in der Somali-Gemeinschaft grollten zwar nach wie vor; sie waren sogar zu Rick Huddleston vom Büro gegen Rassendiffamierung gegangen, und Rick Huddleston hatte geschäumt vor Wut, aber es war nichts zu machen gewesen. Abdikarim schäumte nicht. Für ihn war der lange, magere dunkeläugige Junge, den er im Gerichtssaal gesehen hatte, keine Bedrohung mehr, kein Verrückter, wiil waal , sondern einfach nur wiil , ein Junge. Ein Junge, dem Abdikarims Herz nun entgegenschlug, seit diesem Tag im

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