Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
sie um elf Uhr endlich losfuhren, hatte es dreißig Grad im Schatten. Sie parkten beim Besucherzentrum, gingen dann ein langes Stück auf der Teerstraße weiter, bevor der Wanderweg abzweigte, ein staubiger Pfad, der zwischen Kakteen und Mesquitebäumen entlangführte und schließlich, über eine Reihe breiter, glatter Steine, durch den Fluss. Helen war um vier Uhr morgens aufgewacht und nicht wieder eingeschlafen. Irgendwie musste sie sich während des Abendessens, bei dem Larrys Freundin Ariel endlos von ihrem grauenerregenden Stiefvater erzählt hatte, ein paarmal zu oft von dem schweren Rotwein nachgeschenkt haben; immer weiter hatte Ariel geredet, mit atemloser Stimme, und dazu an ihren langen Haaren gezupft, und Larry hatte sie mit schmachtendem Blick fixiert. Er ging mit ihr ins Bett, sonst hätte er nicht diesen Blick, das war Helen klar. Aber warum musste es so ein hohlköpfiges Ding sein? Es stach ihr ins Herz.
»So schlimm ist sie auch wieder nicht«, war Jims einziger Kommentar. Und auch das war ein kleiner Stich in Helens Herz.
Jetzt starrte sie auf die Fersen von Jims Wanderschuhen und stapfte ihnen nach. Es war sehr heiß, und der Pfad war schmal. Eine kleine Eidechse huschte darüber. »Jimmy, wie lange gehen wir schon?«, fragte sie schließlich.
Jim sah auf seine Armbanduhr. »Eine Stunde.« Er trank aus seiner Wasserflasche, sie trank aus ihrer.
»Ich weiß nicht, ob ich bis zu den Seen durchhalte«, sagte sie.
Seine verspiegelte Sonnenbrille sah sie an. »Nein?«
»Mir ist so ein bisschen … schwummrig.«
»Schauen wir einfach, wie weit wir kommen.«
Die Sonne brannte vom Himmel. Helen machte größere Schritte auf dem steinigen Weg, der sich zwischen knorrigen Ästen und verdorrt wirkendem Gesträuch bergauf wand. Sie sprach nicht, aber als Jim sich einmal an der Wade kratzte, sah sie auf seiner Uhr, dass wieder eine halbe Stunde vergangen war. Und dann hatten sie einen kleinen Grat erreicht, und mit einem Schlag wurde die Hitze zu etwas Lebendigem, Wildem, das die ganze Zeit schon Jagd auf Helen gemacht hatte, und jetzt hatte es sie gepackt. Große dunkle Flecken erschienen in der unteren Hälfte ihres Gesichtsfelds. Sie sank auf einen kleinen Baumstumpf nieder. »Jimmy, ich werde ohnmächtig. Hilf mir.«
Er hieß sie den Kopf zwischen die Knie nehmen und gab ihr Wasser zu trinken. »Gleich geht’s wieder«, sagte er, und sie sagte, nein, es ging nicht mehr. Ihr war übel. Und sie war fast zwei Stunden entfernt vom Parkplatz, vom Besucherzentrum, von jeder Rettung. Sie sagte: »Bitte ruf irgendwo an, bitte, sie brauchen eh so lang bis hierher.« Er hatte sein Handy nicht dabei, sagte er. Er gab ihr noch mal Wasser, befahl ihr, ganz langsam zu trinken, dann führte er sie den Weg zurück, den sie gekommen waren; ihre Beine zitterten so stark, dass sie mehrmals strauchelte. »Jimmy«, flüsterte sie, die Arme vor sich ausgestreckt, »oh, Jimmy, ich will nicht hier sterben.« Nicht in der Wüste Arizonas, nur wenige Meilen von ihrem Sohn – wie sie ihm die Nachricht wohl überbringen würden, fragte sie sich flüchtig, und es schauderte ihr vor dieser praktischen Seite des Todes: Man starb, und die Kinder wurden benachrichtigt. Und Larry würde unsagbar traurig sein, aber so stand es schon um sie, sie sah seine Trauer wie aus weiter Ferne.
»Du bist grade erst durchgecheckt worden«, sagte Jim. »Du stirbst ganz bestimmt nicht.«
Später fragte sie sich, ob er das mit dem Durchchecken wirklich gesagt hatte oder ob es ihr eigener Gedanke gewesen war. Durchgecheckt, was hieß das schon? Vornübergebeugt stolperte sie vorwärts, während Jim sie stützte. Im Flussbett plätscherte ein dünnes Rinnsal. Jim knotete sich das Hemd von der Taille, feuchtete es an und wickelte es ihr um den Kopf. So schafften sie es zurück durch den Canyon.
Als sie wieder die Teerstraße unter den Füßen hatten, war Helen glücklich wie ein Kind, das sich verlaufen und wieder nach Hause gefunden hat. Sie setzten sich auf eine Bank, und sie hielt Jims Hand. »Meinst du, Larry geht es gut?«, fragte sie, nachdem sie den Großteil des Wassers getrunken hatte.
»Er ist verliebt. Um nicht zu sagen spitz.«
»Oh, Jimmy, pfui!« Die Erleichterung machte Helen übermütig.
Jim zog seine Hand zurück und wischte sich über die Stirn. »Wenn du meinst.«
»Gehen wir weiter.« Helen stand auf. »Ach, was bin ich froh, dass ich nicht da oben gestorben bin.«
»Du wärst nicht gestorben.« Jim nahm den Rucksack
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