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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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wieder auf den Rücken.
    Sie verpassten die Abzweigung. Zu spät merkte Helen, dass sie an dem Weg, der diese Straße mit der anderen verband, vorbeigelaufen waren, und jetzt stiegen sie in einer langgezogenen Kurve den nächsten Hügel hinauf. Und keiner von ihnen konnte mit Sicherheit sagen, ob der Weg, den sie nicht genommen hatten, der richtige gewesen wäre. Kein Grund zur Sorge, meinte Jim, irgendwann musste auch diese Straße zum Besucherzentrum zurückführen. Aber die Sonne sengte auf sie herab, und nach einer halben Stunde war ihr Ziel noch immer nicht in Sicht. Hier gab es kein Wasser, um Jims Hemd zu befeuchten. »Jimmy«, rief sie.
    Er goss ihr den kleinen Rest Wasser aus seiner Flasche über den Kopf, und sie fühlte, wie ihre Beine wegknickten, als gehörten sie nicht zu ihrem Körper. Sie kniete am Straßenrand und wusste, sie würde das Bewusstsein verlieren und es niemals wiedererlangen. Sie hatte sämtliche Reserven für den Weg aus der Wüste verbraucht – den Weg bis hierher. Jim lief vor zur Kurve, um zu schauen, wie es dahinter weiterging, und sie sah seine flimmernde Gestalt verschwinden. »Jimmy, lass mich nicht allein«, rief sie, und er kam zurück zu ihr.
    »Es ist noch ein ziemliches Stück.« Sie hörte die Angst in seiner Stimme.
    Sie begriff nicht, wieso er sein Handy nicht dabeihatte.
    Ihre Hände zitterten, die Flecken vor ihren Augen waren riesenhaft und schwarz. In ihren Ohren summten riesige Insekten. Die Hitze war mörderisch, auftrumpfend; sie hatte sie in Sicherheit gewiegt, vorhin auf der Bank, nur um hinter der Straßenbiegung auf sie beide zu lauern, auf dieses Paar, das alles zu haben glaubte.
    Als der Shuttlebus um die Kurve bog und von Jim mit wildem Armeschwenken angehalten wurde, hatte sich Helen bereits einmal übergeben. Der Bus war leer, und der Fahrer half Jim, Helen auf die überdachte Rückbank zu heben. Der Fahrer sah so etwas nicht zum ersten Mal. Er hatte eine Flasche Gatorade unter seinem Sitz und gab sie Jim. Er solle darauf achten, dass sie nur kleine Schlucke nahm. »Deshalb sterben von diesen illegalen Einwanderern so viele«, hörte sie ihn sagen.
    »So ist’s brav, Hellie. Braves Mädchen, feines Mädchen«, murmelte Jim, während er ihr half, die Gatorade zu trinken, und sie musste daran denken, wie sie den Kindern beigebracht hatte, ihre Becher an den Mund zu halten. Aber Jim schien weit weg, alles schien weit weg … trotzdem, irgendetwas war da, oder? Ihr Mann hatte Angst. Dieses winzige Körnchen Wahrheit schien kaum mehr als ein Staubpartikel in der Luft. Es würde davontreiben, trieb schon weg …
    Im Hotel ließen sie die Jalousien herunter und krochen ins Bett. Ihr war jetzt eiskalt, und sie sank dankbar in die weichen Kissen; sie lagen nebeneinander und hielten sich an den Händen. Zwei Menschen, die um ein Haar zusammen gestorben wären, trennen sich nicht , dachte Helen, und dann dachte sie, was für ein seltsamer Gedanke das war.
    »Wo warst du?«, fragte Ariel an ihrem letzten Abend.
    Ariel.
    Helen, die gesagt hatte: »Was für ein aparter Name«, fand den Namen unmöglich. Durch das Dämmerlicht versuchte sie in Ariels Gesicht zu lesen. Sie standen auf dem Hotelparkplatz und verabschiedeten sich. Jim und Larry redeten auf der anderen Seite des Autos miteinander. »Wie, wo war ich?«, fragte Helen dieses Mädchen, das neben ihrem Sohn schlief.
    Die Luft kam Helen kalt vor, trocken.
    »Als Larry im Sommerlager war.«
    Helen war nicht umsonst seit Jahren mit einem Strafverteidiger verheiratet, sie merkte es, wenn ihr eine Falle gestellt wurde. »Das musst du mir bitte erklären«, sagte sie ruhig. Und als das Mädchen nicht antwortete: »Ich weiß leider nicht, was du meinst.«
    »Einfach nur, wo du warst. Larry wollte da nicht hin, und du wusstest es. Jedenfalls denkt er, dass du es wusstest. Aber er musste trotzdem fahren. Und er war todunglücklich. Er meint, dass sein Vater der Schuldige war. Dass Jim darauf bestanden hat, dass er fährt. Aber meine Frage ist: Wo warst du?«
    Oh, die Jungen! Sie hatten die Weisheit gepachtet!
    Helen schwieg eine lange Zeit, so lange, dass Ariel auf ihren Fuß hinuntersah und mit der Sandalenspitze auf dem Boden herumzumalen begann.
    »Wo ich war?«, sagte Helen leichthin. »In New York, einkaufen, nehme ich an.«
    Ariel warf einen Blick zu ihr herüber, kicherte.
    »Nein, im Ernst. Da war ich höchstwahrscheinlich. Einkaufen, um den Kindern jede Woche meine Päckchen schicken zu können, dicke Pakete

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