Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
bestätigte Mrs. Drinkwater. »Dann fühlt er sich also wohl da drüben?«
Susan legte das Foto auf den Nachttisch zurück. »Anscheinend. Die Freundin seines Vaters lebt mit ihnen zusammen. Sie ist Krankenschwester, und vielleicht kann sie sogar kochen, keine Ahnung. Aber Zach mag sie. Sie hat selber Kinder in seinem Alter, die offenbar irgendwo in der Nähe wohnen. Sie unternehmen viel miteinander.« Susan sah an die Decke. »Alles gut.« Sie kniff sich in die Nase und blinzelte. Dann schaute sie durchs Zimmer, die Hände in den Schoß gedrückt. Schließlich sagte sie: »Ich wusste gar nicht, dass Sie mal bei Peck’s gearbeitet haben.«
»Zwanzig Jahre lang. Eine wunderbare Zeit.«
»Ich muss den Hund füttern.« Susan blieb auf dem Bett sitzen.
Mrs. Drinkwater stand auf. »Das kann ich doch machen. Und zum Abendessen mache ich uns ein paar Rühreier, wie klingt das?«
»Sie sind sehr nett zu mir.« Susan zog die Schultern hoch und seufzte.
»Das tu ich doch gern, Kindchen. Packen Sie einen schwarzen Rollkragenpullover und ein Paar schwarze Hosen ein, dann kann nichts schiefgehen.«
Susan schaute erneut auf das Foto. Die Küche, in der Zach stand, kam ihr mehr wie ein Operationssaal vor, klare Linien und viel rostfreier Stahl. Ihr Sohn (ihr Sohn!) sah in die Kamera, auf Susan, und in seinem Blick mischte sich Offenheit mit etwas anderem, nicht Schüchternheit, eher eine Art Abbitte. Sein Gesicht, so kantig und unproportioniert bis vor kurzem, hatte etwas Anziehendes bekommen durch die volleren Wangen, die Augen groß und dunkel, der Kiefer kraftvoll, markant. Beinahe – und es war so eine sonderbare Entdeckung, dass sie gar nicht aufhören konnte, hinzuschauen – , beinahe ähnelte er dem jungen Jim. Die Freude darüber, die als Erstes in ihr aufgezuckt war, hatte seitdem einem anderen, ganz und gar unerträglichen Gefühl Platz gemacht: Verlust, gekoppelt mit einer neuen, ungeahnten Sicht auf sich selbst als Mutter und Ehefrau.
Rückblenden. Szene um Szene, wie aus der offenen Hand gezeigt, und dann schloss die Hand sich, kappte den Anfang, das Ende, den Rahmen, in den die Szenen eingebettet waren. Aber aus diesen Schnappschüssen ihrer selbst – wie sie Steve anschrie, Zach anschrie – setzte sich das Bild ihrer Mutter zusammen, und Susans Wangen brannten vor Scham. Wieso erkannte sie das jetzt erst? Die Wutausbrüche ihrer Mutter hatten die Wut für sie zu etwas Zumutbarem gemacht; der Ton, den Susan immer gehört hatte, war zu dem Ton geworden, in dem sie selber sprach. Ihre Mutter hatte nie gesagt, Susan, es tut mir leid, ich hätte nicht so mit dir reden dürfen. So dass sich auch Susan, all die Jahre später, nie dafür entschuldigt hatte, dass sie so sprach.
Und nun war es zu spät. Dass es für etwas zu spät sein kann, glaubt man immer erst, wenn es zu spät ist.
5
Die Ferienanlage, in der Helen und Jim in Arizona wohnten, lag am Fuß der Santa Catalina Mountains. Von ihrem Zimmer schauten sie auf einen riesigen Saguaro-Kaktus, der mit einem dicken grünen Arm nach oben zeigte und mit einem anderen nach unten. Sie hatten außerdem Blick auf den Pool. »Also«, sagte Helen an ihrem zweiten Morgen, »ich weiß, dass du enttäuscht warst, als Larry hierherwollte, aber ihn hier zu besuchen ist schön.«
»Du warst enttäuscht, nicht ich.« Jim las irgendetwas auf seinem Handy.
»Weil es so weit weg ist.«
»Und weil es nicht Amherst oder Yale ist.« Jetzt tippte Jim auf seinem Handy, seine Daumen flogen.
»Darüber warst du enttäuscht.«
»Nein, nicht die Spur.« Jim sah auf. »Ich habe an einer staatlichen Uni studiert, Helen. Ich habe kein Problem mit staatlichen Universitäten.«
»Du warst in Harvard. Und ich bin höchstens ein bisschen enttäuscht, dass Larry heute nicht mit uns wandern gehen will.«
»Er schreibt an seiner Seminararbeit, wie er gesagt hat. Und abends sehen wir ihn ja.«
Jim klappte sein Telefon zu, nur um es sofort wieder aufzuklappen und daraufzuschauen.
»Jimmy, was immer du da tust, hat das nicht Zeit?«
»Sekunde. Es ist für die Kanzlei, warte.«
»Aber die Sonne wird immer stärker. Und ich habe schlecht geschlafen, das habe ich dir doch gesagt.«
»Helen. Bitte.«
»Die Wanderung dauert vier Stunden, Jimmy. Gibt es keine kürzere Strecke?«
»Ich weiß, dass sie vier Stunden dauert. Und der Weg ist wunderschön, und er gefällt mir. Und du fandest ihn beim letzten Mal auch schön. Lass mich nur das hier kurz fertig machen, dann können wir.«
Als
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