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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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sich zu bewegen, als Abdikarim die Finger an die Stirn presste. Schlimm genug, dass der Mann, den sie heute festgenommen hatten, keinem von ihnen bekannt war. (Alle waren davon ausgegangen, dass es jemand hier aus der Nähe war, einer von diesen Männern mit dicken tätowierten Oberarmen, die schon morgens mit ihren Bierdosen auf der Türstufe saßen und deren laut knatternde Pick-ups Aufkleber trugen wie: W EISSE K RAFT VORAUS , ALLE ANDERN R AUS !) Ja, schlimm genug, dass dieser Zachary Olson eine Arbeit hatte und in einem ordentlichen Haus wohnte, bei seiner Mutter, die ebenfalls eine Arbeit hatte. Aber was Abdikarim noch viel mehr Angst machte, was dieses Übelkeitsgefühl im Magen und den stechenden Schmerz in seinem Kopf verursachte, rührte von dem Abend her, an dem es passiert war, denn die beiden Polizisten, die auf den Anruf des Imam hin eintrafen, hatten in der Moschee gestanden, mit ihren dunklen Uniformen und ihren Pistolenhalftern, hatten dagestanden, auf den Schweinekopf hinuntergeschaut und gelacht. »Okay, Leute«, hatten sie dann gesagt. Hatten Formulare ausgefüllt, Fragen gestellt. Waren ernst geworden. Hatten Fotos gemacht. Nicht alle hatten das Lachen gesehen. Aber Abdikarim, der ganz in der Nähe stand, schwitzend unter seinem Gebetsgewand, hatte es gesehen. Heute Abend hatten ihn die Ältesten gebeten, es auch Rabbi Goldman noch einmal zu schildern, und so hatte er es nachgespielt: ihr Grinsen, das Nuscheln in die Funkgeräte, den Blick, den die beiden Polizisten gewechselt hatten, dieses leise Lachen. Rabbi Goldman hatte trauervoll den Kopf geschüttelt.
    Haweeya stand in der Tür und rieb sich die Nase. »Hast du Hunger?«, fragte sie, und Abdikarim sagte, dass er bereits bei Ifo Noor gegessen hatte. »Ist noch mehr passiert?«, fragte sie leise. Ihre Kinder kamen über den Gang zu ihr gerannt, und sie spreizte die langen Finger um den Kopf ihres Sohns.
    »Nein, nichts Neues.«
    Sie nickte mit schaukelnden Ohrringen und trieb ihre Kinder ins Wohnzimmer zurück. Sie hatte sie den ganzen Tag über im Haus behalten, um sie ihre Ahnenreihe abzufragen, Urgroßvater, Ururgroßvater und noch weiter; den Amerikanern schienen ihre Vorfahren nicht viel zu bedeuten. Somali konnten Generation für Generation auswendig hersagen, und Haweeya wollte nicht, dass ihre Kinder das verloren. Trotzdem, es war schwer gewesen, sie den ganzen Tag drinnen zu halten. So lange den Himmel nicht zu sehen, das tat niemandem gut. Aber als Omad heimgekommen war – er arbeitete als Dolmetscher im Krankenhaus – , hatte er bestimmt, dass sie in den Park gehen sollten. Omad und Haweeya waren schon länger im Land als andere, sie ließen sich nicht so rasch einschüchtern. Sie hatten die übelsten Ecken von Atlanta überlebt, wo die Menschen Drogen nahmen und sich gegenseitig direkt vor der Haustür ausraubten; im Vergleich dazu war Shirley Falls sicher und schön. Und so hatte Haweeya, müde vom Fasten und von der klaren Herbstluft, von der ihr – sie verstand nicht, warum – die Nase lief und die Augen juckten, spät am Nachmittag noch den Kindern zugeschaut, wie sie fallenden Blättern hinterherjagten. Der Himmel war beinahe blau.
    Als die Küche aufgeräumt und der Boden geschrubbt waren, kehrte Haweeya zu Abdikarim zurück. Sie empfand große Zuneigung zu diesem Mann, der vor einem Jahr nach Shirley Falls gekommen war, nur um zu entdecken, dass seine Frau Asha – die er mit den Kindern vorausgeschickt hatte – nichts mehr von ihm wissen wollte. Sie hatte einfach die Kinder genommen und war nach Minneapolis gezogen. So etwas war eine Schmach. Haweeya verstand das, alle verstanden es. Abdikarim gab Amerika die Schuld. Amerika hatte Asha diese Unabhängigkeitsflausen in den Kopf gesetzt, meinte er, aber Haweeya dachte bei sich, dass Asha, um Jahre jünger als ihr Mann, eine Frau war, die ihren Willen durchsetzte; manche Menschen wurden so geboren. Ein zusätzlicher Kummer: Asha war die Mutter von Abdikarims einzigem überlebendem Sohn. Von seinen anderen Kindern von anderen Ehefrauen waren nur Töchter übrig. Er hatte Verluste zu beklagen, wie so viele von ihnen.
    Jetzt saß er auf dem Bett, die Fäuste in die Matratze gestemmt. Haweeya lehnte sich an den Türrahmen. »Margaret Estaver hat heute Abend angerufen. Wir sollen uns keine Sorgen machen, sagt sie.«
    »Ich weiß, ich weiß.« Abdikarim machte eine müde Handbewegung. »Für sie ist er ein wiil waal – ein verrückter Junge.«
    »Ayanna will ihre Kinder am

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