Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
erstklassige Arbeit geleistet. Ob man Wally nun für schuldig hält oder nicht.«
Susan sagte eifrig: »Aber ich glaube, die meisten Leute, die sich an Jim erinnern, bewundern ihn auch heute noch. Sie sind große Fans von seinen Fernsehauftritten. Weil er keiner von diesen Klugscheißern ist, sagen die Leute. Und das stimmt.«
»Ja, das stimmt. Wobei er diese Fernsehauftritte hasst. Er macht das nur, weil die Kanzlei es von ihm verlangt. Während des Packer-Prozesses hat er die öffentliche Aufmerksamkeit genossen, aber ich glaube, jetzt nicht mehr. Helen legt Wert darauf. Sie startet immer einen Rundruf, wenn er wieder einen Auftritt hat.«
»Helen. Natürlich.«
Das einte sie – ihre Liebe zu Jim. Bob nutzte die Gelegenheit, um aufzustehen; er wolle kurz einen Happen essen gehen, sagte er. »Gibt es unseren Italiener noch?«
»Doch, ja.«
Die Straßen waren dunkel. Er staunte jedes Mal, wie dunkel die Nacht außerhalb der Großstadt war. Er hielt kurz bei einem kleinen Lebensmittelgeschäft und kaufte zwei Flaschen Wein – in Maine ging das. Er nahm Flaschen mit Schraubverschluss. Die Gegend kam ihm weniger vertraut vor, als er es erwartet hatte. Gezielt vermied er die Richtung, in der sein Elternhaus lag. Seit dem Tod seiner Mutter (vor Jahren, die genaue Anzahl wusste er nicht mehr) war er nicht ein einziges Mal an dem Haus vorbeigekommen. Er bremste vor einem Stoppschild, bog nach rechts, sah vor sich den alten Friedhof. Zu seiner Linken hölzerne Mehrfamilienhäuser, dreistöckig. Er näherte sich dem Stadtzentrum. Er fuhr hinter dem alten Peck’s-Gebäude vorbei; früher, als es das Einkaufszentrum auf der anderen Flussseite noch nicht gab, war Peck’s das erste Kaufhaus am Platz gewesen. Hier war Bob als Kind in der Jungen-Abteilung für die Schule eingekleidet worden. Die Erinnerung war mit Scham besetzt, mit peinigender Befangenheit: der Verkäufer, der ihm die Hosenbeine umschlug, der ihm mit seinem Zentimetermaß das Bein einmal bis hoch zum Schritt vermaß; dazu rote Rollkragenpullover, dunkelblaue, die seine Mutter nickend guthieß. Das Gebäude stand jetzt leer, die Fenster waren mit Brettern vernagelt. Ein Stück weiter war früher der Busbahnhof gewesen, mit Cafeterias, Zeitschriftenläden, Bäckereien. Plötzlich tauchte unter einer Straßenlaterne ein schwarzer Mann auf. Ein hochgewachsener Mann, geschmeidig in seinen Bewegungen, mit weitem Hemd und möglicherweise einer Weste darüber, Bob war sich nicht sicher. Seine Schultern verdeckte ein schwarzweißes Umschlagtuch mit Fransen. »Cool«, sagte Bob leise. »Noch einer.« Und dann dachte Bob, der seit vielen Jahren in New York lebte, Bob, der dort für kurze Zeit (ehe ihn der Stress der Gerichtssäle in die Berufungsarbeit getrieben hatte) Kriminelle diverser Hautfarbe und Religion verteidigt hatte, Bob, der an die Unantastbarkeit der Verfassung und das Recht der Menschen, aller Menschen, auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück glaubte – Bob Burgess dachte, nachdem der hochgewachsene Mann mit dem Fransentuch in eine Seitenstraße von Shirley Falls eingebogen war, ganz flüchtig nur, aber er dachte es: Solange es nicht zu viele werden …
Er fuhr weiter, und da, halb verborgen hinter der Tankstelle, kam Antonio’s in Sicht, das Spaghetti-Lokal. Bob brachte das Auto auf dem Parkplatz zum Stehen. An der Glastür des Lokals leuchtete ein orangeroter Schriftzug. Bob sah auf die Uhr am Armaturenbrett. Neun Uhr an einem Samstagaben d, und Antonio’s hatte schon zu. Er schraubte eine Weinflasche auf. Wie ließ sich beschreiben, was er empfand? Eine Wehmut blühte in ihm auf, so brennend, dass es ans Lustvolle grenzte: ein Verlangen, ein stummes innerliches Aufseufzen wie im Angesicht unaussprechlicher Schönheit, eine Sehnsucht, den Kopf in den breiten, schlaffen Schoß dieser Stadt zu betten, Shirley Falls.
Er hielt bei einem kleinen Eckladen, kaufte eine Tiefkühlpackung Garnelenspieße und fuhr damit zurück zu Susan.
Abdikarim Ahmed wechselte vom Bürgersteig auf die Straße, um Abstand zwischen sich und die Hauseingänge zu legen, wo sich im Dunkeln leicht jemand herumdrücken konnte. Als er zum Haus seiner Nichte kam, sah er, dass das Licht über der Tür wieder nicht brannte. »Onkel«, riefen ihm Stimmen entgegen, und er ging durch den Flur in sein Zimmer, dessen Wände mit Perserteppichen bedeckt waren; Haweeya hatte sie aufgehängt, als er vor ein paar Monaten hier eingezogen war. Die Farben der Wandbehänge schienen
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