Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
Töchter wollte sie ohne jede Einschränkung lieben. Das Haus sollte von ihren fröhlichen Stimmen erfüllt sein; sie sollten Make-up benutzen, mit Jungen telefonieren, Pyjamapartys feiern, in Läden gekaufte Kleider tragen dürfen – alles, was Susan nicht gedurft hatte.
Sie hatte eine Fehlgeburt. »Was musstest du auch aller Welt davon erzählen«, sagte ihre Mutter. Aber man sah es doch, wie hätte sie es im zweiten Trimenon für sich behalten sollen? »Ein Mädchen«, sagte der Arzt, weil sie nachgefragt hatte. In der ersten Nacht nahm Steve sie in die Arme. »Das nächste ist hoffentlich ein Junge«, sagte er.
Als wären es Spielzeuge auf dem Ladenregal; eins fiel herunter und zerbrach, das nächste blieb hoffentlich heil. Nein, sie hatte ihre Tochter verloren! Und sie lernte – frisch, sengend – die Isolation der Trauer kennen. Als gehörte sie plötzlich einem großen, exklusiven Club an, von dessen Existenz sie vorher nichts gewusst hatte: Frauen mit Fehlgeburten. Der Gesellschaft draußen waren sie egal. Herzlich egal. Und die Frauen im Club gingen meist schweigend aneinander vorbei. Die Menschen draußen sagten: »Dann bekommst du eben noch eins.«
Die Krankenschwester, die ihr Zachary in die Arme legte, musste ihre Tränen für Freudentränen halten, aber es war sein Anblick, der Susan zum Weinen brachte: mager, nass, fleckig, die Augen fest geschlossen. Er war nicht ihr kleines Mädchen. Der beängstigende Gedanke durchzuckte sie, dass sie es ihm vielleicht nie verzeihen würde. Er lag an ihrer Brust und wollte nicht saugen. Am dritten Tag drückte die Schwester ihm einen kalten Waschlappen an die Backe, um ihn ein bisschen aufzuwecken, aber er klappte nur verschreckt die Augen auf und legte sein Gesichtchen in Kummerfalten. »O bitte«, flehte Susan die Schwester an, »machen Sie das bitte nicht noch mal.« Die Milch verhärtete ihre Brüste, der Stau führte zur Entzündung. Sie musste sich unter eine unerträglich heiße Dusche stellen und die Milch herausdrücken. Ihr magerer, schrumpeliger kleiner Junge blieb teilnahmslos, verlor an Gewicht. »Warum saugt er nicht?«, klagte Susan, aber niemand schien eine Antwort zu wissen. Ein Fläschchen Muttermilchersatz wurde angerührt, und Zachary sog am Schnuller.
»Er sieht irgendwie sonderbar aus«, sagte Steve.
Er weinte selten, und wenn Susan nachts nach ihm sah, überraschte er sie oft mit seinen offenen Augen. »Worüber denkst du nach?«, flüsterte sie und streichelte ihm den Kopf. Mit sechs Wochen lächelte er sie geduldig, freundlich und gelangweilt an.
»Glaubst du, er ist normal?«, fragte sie eines Tages unbedacht ihre Mutter.
»Nein, das glaube ich nicht.« Barbara hielt Zachs winziges Händchen. Er hatte gerade Laufen gelernt, mit dreizehn Monaten, und war zwischen Sofa und Serviertisch unterwegs. »Ich weiß nicht, was mit ihm ist«, sagte Barbara, ohne den Blick von ihm zu nehmen, und fügte hinzu: »Aber lieb ist er.«
Und das war er: anspruchslos, ruhig, die Augen unverwandt auf die Mutter gerichtet. Natürlich hatte Susan ihr verlorenes kleines Mädchen nicht vergessen – sie dachte ständig daran – , aber die Liebe zu dem Mädchen schien allmählich in der Liebe zu Zach aufzugehen. Im Kindergarten fing Zach auf einmal zu weinen an und wollte nicht wieder aufhören. »Er kann da nicht bleiben«, sagte Susan. »Er weint sonst nie. Das ist nicht der richtige Ort für ihn.«
»Du machst eine Memme aus ihm«, sagte Steve. »Er muss sich dran gewöhnen.«
Einen Monat später wurden sie gebeten, Zach aus dem Kindergarten zu nehmen, weil sein Weinen den Betrieb störte. Susan fand auf der anderen Seite des Flusses einen anderen Kindergarten, in dem Zach nicht weinte. Aber er spielte mit niemandem. Susan stand in der Tür und sah zu, wie die Erzieherin ihn bei der Hand nahm und zu einem anderen kleinen Jungen führte, und dann sah Susan, wie ihr Sohn von dem anderen Jungen einen Stoß versetzt bekam und – mager, wie er war – umkippte wie ein Stock.
In der Grundschule machten sie sich gnadenlos über ihn lustig. In der Mittelschule verprügelten sie ihn. In der Highschool verließ sein Vater sie und Zach. Aber davor war es zu lautstarken Auseinandersetzungen gekommen, die Zach nicht entgangen sein konnten. »Er fährt nicht Fahrrad. Er kann nicht mal schwimmen. Er ist ein totaler Schlappschwanz, und du hast ihn dazu gemacht!« Steve, mit hochrotem Kopf, wusste es ganz genau. Susan glaubte ihrem Mann und dachte, er hätte sie
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