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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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ihr eigenes Kind nicht mag? Nicht wenigstens ab und zu mal sagt, nett siehst du aus?«
    Jim wedelte mit der Hand. »Es hatte was damit zu tun, dass Susan ein Mädchen war. Sie hatte die Arschkarte, weil sie ein Mädchen war.«
    »Helen liebt eure Mädchen.«
    »Na klar, sie ist ja auch Helen. Und in unserer Generation ist es sowieso anders. Hast du noch gar nicht mitgekriegt, oder? Nein, du natürlich nicht. Aber in unserer Generation sind wir eher die Freunde unserer Kinder. Vielleicht ist das abartig, vielleicht auch nicht, wer weiß das? Aber wir haben anscheinend beschlossen, nein, das tun wir unseren Kindern nicht an, wir wollen die Freunde unserer Kinder sein. Ganz ehrlich, Helen ist großartig. Und Mom und Susan – das war damals. Bei der nächsten Ausfahrt wird gegessen.«
    In Connecticut kamen sie sich schon wie in den Außenbezirken von New York vor, und Shirley Falls lag in weiter Ferne. »Ob wir Zach mal anrufen?«, fragte Bob und zog das Handy aus der Tasche.
    »Nur zu.« Jim klang gleichgültig.
    Bob steckte das Handy wieder ein. Der Anruf hätte eine Energie gekostet, die er nicht aufbrachte. Er fragte Jim, ob er ihn am Steuer ablösen sollte, aber Jim schüttelte den Kopf und sagte, nein, er sei noch fit. Bob hatte es vorher schon gewusst. Jim ließ ihn nie fahren. Als sie noch jung waren und Jim seinen Führerschein bekam, durfte Bob nur auf dem Rücksitz bei ihm mitfahren. Das fiel Bob jetzt wieder ein, aber er schwieg; alles, was mit Shirley Falls zu tun hatte, schien weit weg, unerreichbar, und das war gut so.
    Es war dunkel, als sie sich Manhattan näherten, zu beiden Seiten funkelten die Lichter der Stadt, die Brücken schwangen sich in glitzernder Pracht über den East River, rot blinkte das riesige Pepsi-Zeichen von Long Island City herüber. Als Jim vor der Auffahrt zur Brooklyn Bridge vom Gas ging, sah Bob den Turm des Municipal Building und die hohen, dicht gedrängten Wohnhäuser direkt am Drive, Lichter beinahe in jedem Fenster, und er bekam Heimweh nach alledem, als gehörte er nicht mehr hierher, sondern hätte nur vor langer Zeit einmal hier gelebt. Nach der Brücke, auf der Atlantic Avenue, fühlte er sich, als würde er tief in ein Land eindringen, das vertraut, aber auch fremd war, und die Gleichzeitigkeit dieser Eindrücke verwirrte Bob; er war wieder ein Kind, müde und quengelig, das mit seinem großen Bruder nach Hause wollte.
    »Da wären wir, Goofy«, sagte Jim, als sie vor Bobs Haus hielten. Er winkte nur mit den Fingern, ohne die Hand vom Lenkrad zu nehmen, Bob zog die Tasche vom Rücksitz und stieg aus. Vor seinem Haus entdeckte er neben der Recyclingtonne die großen Rechtecke zerschnittener Umzugskartons. Als er die Treppe hinaufstieg, sah er den Lichtbalken unter der Tür der bis vor kurzem noch leerstehenden Wohnung seiner ehemaligen Nachbarn. Jetzt waren die munteren Stimmen eines jungen Paars zu hören, und ein Baby schrie.

D RITTES B UCH

1
    Den Großteil von Zacharys neunzehn Jahren hatte Susan es gemacht wie alle Eltern, deren Kind sich so völlig anders entwickelt, als sie es sich vorgestellt haben – sich eingeredet, mit der ganzen, erbärmlichen Kraft der Hoffnung, dass es schon werden würde. Zach würde zu sich finden. Er würde Freunde haben, am Leben teilnehmen. In sich selbst hinein-, aus seinen Problemen herauswachsen … In allen Varianten hatte Susan das in Gedanken während schlafloser Nächte durchgespielt. Aber darunter pochte der dunkle, unbarmherzige Rhythmus des Zweifels: Zach hatte keine Freunde, war schweigsam, zögerlich in allem, was er tat, seine Schulleistungen bestenfalls ausreichend. Tests quittierten einen überdurchschnittlichen IQ , keine erkennbaren Lernstörungen – aber das Gesamtpaket Zachary Olson ließ zu wünschen übrig. Und manchmal steigerte sich die leise Melodie des Versagens zum Crescendo einer unerträglichen Gewissheit: Es war ihre Schuld.
    Wessen Schuld sollte es sonst sein?
    Auf der Universität hatte Susan sich vor allem für die Kurse in Kindesentwicklung interessiert. Im Besonderen für die Bindungstheorien. Die Bindung an die Mutter schien von größerer Bedeutung als die Bindung an den Vater, obwohl auch die natürlich wichtig war. Aber die Mutter war der Spiegel, in dem das Kind sich wiederfand, und Susan hatte sich ein Mädchen gewünscht. (Sie wollte zuerst drei Mädchen, dann einen Jungen, der wie Jim sein sollte.) Ihre Mutter hatte die Jungen lieber gemocht, das sah Susan in schreiender Deutlichkeit. Ihre

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