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Das Leben und das Schreiben

Das Leben und das Schreiben

Titel: Das Leben und das Schreiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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als emotional oder imaginär kompliziert erweist. Manchmal muss man einfach weitermachen, auch wenn man keine Lust hat, und manchmal leistet man sogar gute Arbeit, wenn man den Eindruck hat, nichts weiter zuwege zu bringen, als im Sitzen Scheiße zu schaufeln.
    Tabby half mir, angefangen bei der Information, dass Automaten mit Binden in der Highschool normalerweise nicht mit Münzen betrieben werden – Lehrkörper und Verwaltung gefiel die Vorstellung nicht, dass Mädchen mit vollgebluteten Röcken in der Schule herumlaufen, nur weil ihnen zufällig ein Vierteldollar fehlt, erklärte meine Frau. Meine Arbeit als Englischlehrer war nicht sehr hilfreich; ich war schon sechsundzwanzig und stand auf der falschen Seite des Tisches. Aber ich half mir auch selbst, indem ich mir meine Highschool-Zeit in Erinnerung rief und das, was ich über die beiden einsamsten und am meisten geschmähten Mädchen in meiner Klasse wusste – wie sie aussahen, wie sie sich benahmen, wie sie behandelt wurden. Nur sehr selten habe ich mich während meiner Karriere auf ein abscheulicheres Territorium vorgewagt.
    Eines dieser Mädchen will ich Sondra nennen. Sie wohnte mit ihrer Mutter und ihrem Hund Cheddar Cheese in einem Trailer bei mir in der Nähe. Sondra hatte eine gurgelnde, unstete Stimme, so als hätte sie ständig einen Schleimbrocken im Hals. Sie war zwar nicht dick, doch ihre Haut sah irgendwie schwammig und blass aus, wie die Unterseite von manchen Pilzen. Das Haar hing ihr in festen Löckchen auf die verpickelten Wangen wie bei dem Waisenkind Annie aus dem Comicstrip Little Orphan Annie . Sie hatte keine Freunde (bis auf Cheddar Cheese, nehme ich an). Eines Tages beauftragte mich ihre Mutter, ein paar Möbel umzustellen. Das Wohnzimmer des Trailers wurde von einem fast lebensgroßen gekreuzigten Jesus beherrscht. Er hatte hängende Mundwinkel, die Augen zum Himmel erhoben, und von der Dornenkrone tropfte Blut den Kopf herunter. Er war nackt, abgesehen von einem Lumpen, der um seine Hüften und Lenden gewickelt war. Über diesem Lendenschurz waren ein eingefallener Bauch und die hervortretenden Rippen eines KZ-Opfers zu sehen. Ich hatte den Eindruck, dass Sondra unter dem quälenden Blick dieses sterbenden Gottes aufgewachsen war und diese Umgebung ohne Zweifel dazu beigetragen hatte, sie zu dem Menschen werden zu lassen, den ich kannte: eine schüchterne, hausbackene Außenseiterin, die wie eine verängstigte Maus durch die Flure der Lisbon High huschte.
    »Das ist Jesus Christus, mein Herr und Erlöser«, sagte Sondras Mutter, als sie meinen Blick bemerkte. »Bist du erlöst, Steve?«
    Ich beeilte mich, ihr zu versichern, dass ich so erlöst wie nur irgend möglich sei, obwohl ich mir nur schwer jemanden vorstellen konnte, der so gut war, dass sich diese Version von Jesus für ihn einsetzte. Der Schmerz hatte ihn wahnsinnig gemacht. Das war seinem Gesicht anzusehen. Wenn dieser Typ wiederkehrte, wäre er bestimmt nicht in Erlöserlaune.
    Das andere Mädchen will ich Dodie Franklin nennen … Von anderen Mädchen wurde sie allerdings Dodo oder Doodoo genannt. Ihre Eltern interessierten sich nur für eines, und das war die Teilnahme an Wettbewerben. Darin waren sie sogar erfolgreich: Sie hatten schon alle möglichen seltsamen Sachen gewonnen, darunter ein Jahr lang Thunfisch in Dosen von Three Diamonds und den Maxwell des Geigers Jack Benny. Das gewonnene Auto stand links neben ihrem Haus in dem Teil von Durham, der als Southwest Bend bekannt war, und versank langsam in der Landschaft. Alle ein, zwei Jahre erschien in einer der örtlichen Zeitungen, der Press-Herald aus Portland, der Sun aus Lewiston und der Weekly Enterprise aus Lisbon, ein Artikel über all den verrückten Mist, den Dodies Familie bei Tombolas, Lotterien und Verlosungen gewonnen hatte. Meistens gab es ein Foto vom Maxwell, von Jack Benny mit seiner Geige oder von beiden.
    Was auch immer die Franklins gewannen, Kleidung für wachsende Teenager gehörte wohl nicht zur Ausbeute. Dodie und ihr Bruder Bill trugen in den ersten eineinhalb Jahren auf der Highschool täglich dieselben Klamotten: er eine schwarze Hose und ein kurzärmeliges kariertes Sporthemd, sie einen langen schwarzen Rock, graue Kniestrümpfe und eine ärmellose weiße Bluse. Einige meiner Leser wollen vielleicht nicht glauben, dass ich es wörtlich meine, wenn ich »täglich« sage, aber wer in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in kleinen Städten auf dem Land aufwuchs, weiß, dass ich das tue. Im

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