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Das Leben und das Schreiben

Das Leben und das Schreiben

Titel: Das Leben und das Schreiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Durham meiner Jugend gab es das ungeschminkte Leben. Bei mir in der Schule waren Kinder, die monatelang den gleichen Kragenschmutz trugen, Kinder mit Ausschlägen und eitrigen Hautentzündungen, Kinder, deren Brandwunden nicht behandelt worden waren und deren Gesichter wie die schaurigen Köpfe der Puppen aus getrockneten Äpfeln aussahen, Kinder, die mit Steinen in den Henkelmännern und nichts als Luft in den Thermosflaschen zur Schule geschickt wurden. Wir lebten nicht in Arkadien – es war halt nur eine Kleinstadt wie das ärmliche Dogpatch in dem Comicstrip L’il Abner, nur ohne den Sinn für Humor.
    In der Grundschule von Durham kamen Dodie und Bill Franklin noch ganz gut zurecht, aber zur Highschool mussten sie in die größere Stadt fahren, und Lisbon Falls bedeutete für Kinder wie Dodie und Bill Spott und Untergang. Belustigt und entsetzt sahen wir zu, wie Bills Hemd ausbleichte und sich von den kurzen Hemdsärmeln her aufzulösen begann. Einen fehlenden Knopf ersetzte er mit einer Büroklammer. Einen Riss in der Hose auf Kniehöhe reparierte er mit einem Klebestreifen, den er sorgfältig mit einem Buntstift schwärzte, damit er zur Farbe der Hose passte. Dodies ärmellose weiße Bluse verfärbte sich mit der Zeit durch das Tragen, das Alter und Schweißflecken gelb. Als der Stoff dünner wurde, waren die Träger ihres BHs immer deutlicher zu erkennen. Die anderen Mädchen machten sich über sie lustig, anfangs hinter ihrem Rücken, später unverhohlen. Zuerst wurde sie gehänselt, dann verhöhnt. Die Jungen machten dabei nicht mit, wir hatten ja Bill (ja, ich auch; zwar nicht sehr häufig, aber ich war dabei). Dodie traf es schlimmer, glaube ich. Die Mädchen lachten Dodie nicht einfach nur aus, sie hassten sie auch. Dodie stellte all das dar, wovor sie sich fürchteten.
    Nach den Weihnachtsferien unseres zweiten Jahres kehrte Dodie strahlend zur Schule zurück. Statt des schäbigen, alten schwarzen Rocks trug sie nun einen preiselbeerfarbenen, der nur bis zu den Knien reichte, und nicht, wie der alte, bis zur Mitte der Schienbeine. Die schmuddeligen Kniestrümpfe waren von Nylonstrümpfen abgelöst worden. Das sah ganz nett aus, weil sie sich endlich die üppige Matte aus schwarzen Haaren an den Beinen abrasiert hatte. Die uralte ärmellose Bluse war einem weichen Wollpullover gewichen. Sie hatte sogar eine Dauerwelle. Dodie war wie verwandelt, und man konnte ihrem Gesicht ansehen, dass sie es wusste. Keine Ahnung, ob sie für diese neuen Klamotten gespart, ob sie sie von den Eltern zu Weihnachten bekommen oder sie höllisch lange gebettelt hatte, bis es schließlich Früchte getragen hatte. Ist aber egal, denn Kleidung allein ändert gar nichts. Die Hänseleien an dem Tag waren schlimmer als je zuvor. Ihre Mitschülerinnen hatten nicht vor, sie aus der Schublade zu lassen, in die sie sie gesteckt hatten; schon für den Ausbruchversuch wurde sie bestraft. Ich hatte einige Fächer mit ihr zusammen und konnte aus nächster Nähe beobachten, wie Dodie zugrunde gerichtet wurde. Ich sah, wie ihr Lächeln verblasste, sah das Licht in ihren Pupillen schwächer werden und schließlich erlöschen. Am Ende des Schultags war sie dasselbe Mädchen, das sie vor den Weihnachtsferien gewesen war: ein Gespenst mit teigigem Gesicht und Sommersprossen auf den Wangen, das mit gesenktem Blick durch die Flure huschte, die Bücher vor die Brust gedrückt.
    Sie trug den neuen Rock und den Pullover auch am nächsten Tag. Und am übernächsten. Und am überübernächsten. Als das Schuljahr zu Ende ging, trug sie die Sachen noch immer, obwohl das Wetter inzwischen viel zu heiß für Wollpullover geworden war und ihr immer Schweißperlen auf Oberlippe und Schläfen standen. Die selbst gemachte Dauerwelle wurde nicht aufgefrischt, und die neue Kleidung wirkte mit der Zeit glanzlos und verfilzt, doch die Hänselei hatte sich wieder auf vorweihnachtliche Stärke reduziert, verhöhnt wurde sie gar nicht mehr. Da hatte jemand über den Zaun flüchten wollen und musste niedergeworfen worden – das war alles. Sobald die Flucht vereitelt und die Zahl der Eingepferchten wieder vollständig war, kehrte der Alltag wieder ein.
    Als ich mit Carrie begann, waren Sondra und Dodie jedoch bereits tot. Sondra war aus dem Trailer in Durham in eine Wohnung in Lisbon Falls gezogen, hatte den quälenden Blick des sterbenden Erlösers hinter sich gelassen. Sie muss irgendwo in der Nähe gearbeitet haben, wahrscheinlich in einer der Webereien oder

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