Das Leben und das Schreiben
Reihe grammatisch korrekter Sätze kann die Lesbarkeit verschlechtern, dem Text die Geschmeidigkeit nehmen. Puristen hören das nicht gern und werden das noch auf ihrem Sterbebett verneinen, doch es stimmt trotzdem. Sprache muss nicht immer mit Krawatte und Schnürschuhen daherkommen. Beim Schreiben geht es nicht um den korrekten Gebrauch der Grammatik, sondern darum, es dem Leser gemütlich zu machen und ihm eine Geschichte zu erzählen … um ihn, wann immer möglich, vergessen zu lassen, dass er überhaupt eine Geschichte liest. Der aus einem Satz bestehende Absatz hat mehr Ähnlichkeit mit der gesprochenen als der geschriebenen Sprache, und das ist gut so. Schreiben heißt verführen. Ein gutes Gespräch ist auch Verführung. Warum sonst landen so viele Paare, die den Abend mit einem Essen beginnen, schließlich im Bett?
Des Weiteren enthält dieser Absatz Regieanweisungen, knappe, aber wertvolle Zusatzinformationen über Figuren und Schauplatz, und leitet einen wichtigen Übergang ein. Vorher protestiert Big Tony, seine Geschichte stimme, danach erzählt er von seinen Erinnerungen an O’Leary. Da der Sprecher derselbe bleibt, könnte sich Tony eigentlich im gleichen Absatz hinsetzen, eine Zigarette anzünden und danach mit der wörtlichen Rede fortfahren. Aber der Autor wählt einen anderen Weg. Weil Tony einen neuen Kurs einschlägt, wird die wörtliche Rede in zwei Absätze aufgeteilt. Diese Entscheidung wurde spontan beim Schreiben getroffen und entstand allein aus dem Rhythmus, den der Autor im Kopf hört. Dieser Takt gehört zur angeborenen Grundausstattung (Kellerman schreibt viele Fragmente, weil er viele in seinem Kopf hört ), ist aber ebenfalls das Ergebnis von tausend Stunden Schreiberfahrung und zehn tausend Stunden Leseerfahrung.
Ich bin der Meinung, dass nicht der Satz, sondern der Absatz die kleinste Einheit eines Textes darstellt, in der Kohärenz entsteht und Wörter die Chance haben, über sich hinauszuwachsen. Wenn es Zeit wird, das Tempo zu erhöhen, geschieht das auf Absatzebene. Der Absatz ist ein herrliches, flexibles Instrument, das aus nur einem Wort bestehen oder sich über mehrere Seiten erstrecken kann (ein Absatz im historischen Roman Paradise Falls von Don Robertson zieht sich über sechzehn Seiten; in Das Land des Regenbaums (Originaltitel: Raintree County ) von Ross Lockridge sind sie fast genauso lang). Sie müssen lernen, dieses Mittel gut einzusetzen, wenn Sie gut schreiben wollen. Das bedeutet: üben, üben, üben – Sie müssen den Rhythmus spüren.
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Holen Sie noch einmal das Buch aus dem Regal, das Sie sich eben angesehen haben, ja? Sein Gewicht in Ihrer Hand teilt Ihnen etwas mit, das Sie verstehen, ohne ein einziges Wort gelesen zu haben. Wie lang das Buch ist, natürlich, aber noch mehr: Das Gewicht erzählt Ihnen von dem Engagement, das der Autor geleistet hat, um dieses Buch erschaffen zu können, und von dem Engagement, das der treue Leser zeigen muss, um es sich einzuverleiben. Sicherlich sind Länge und Gewicht kein Garant für eine herausragende Leistung; so manches epische Werk ist nicht mehr als epischer Müll. Fragen Sie ruhig meine Kritiker, die ganze kanadische Wälder beklagen, die massakriert wurden, nur um mein Geschwätz zu drucken. Andererseits bedeutet kurz nicht zwangsläufig süß. In manchen Fällen ( Die Brücken am Fluss (Originaltitel: The Bridges of Madison County ), zum Beispiel) bedeutet kurz sogar viel zu süß. Und dennoch besteht dieses Engagement, egal ob ein Buch gut oder schlecht, ob es erfolgreich oder ein Flop ist. Worte haben Gewicht. Da können Sie jeden fragen, der in der Versandabteilung eines Verlages oder im Lager einer großen Buchhandlung arbeitet.
Wörter bilden Sätze, Sätze bilden Absätze, manchmal gewinnen Absätze an Tempo und beginnen zu atmen. Stellen Sie sich vielleicht Frankensteins Monster auf dem Versuchstisch vor. Jetzt kommt der Blitz, nicht aus dem Himmel, sondern aus einem schlichten Absatz voller englischer Wörter. Vielleicht ist es der erste richtig gute Absatz, den Sie je geschrieben haben, ein solch zerbrechliches Gebilde und doch so voller Möglichkeiten, dass es Ihnen Angst einjagt. Sie fühlen sich, wie Victor Frankenstein zumute gewesen sein muss, als die tote Ansammlung zusammengenähter Einzelteile plötzlich die wässrig gelben Augen aufschlug. Ach, du meine Güte, das Ding atmet , wird ihnen klar. Vielleicht kann es sogar denken. Was zur Hölle soll ich jetzt bloß als Nächstes tun?
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