Das Leben und das Schreiben
Lese-und-Schreibprogramm (täglich vier bis sechs Stunden) wird Ihnen nicht anstrengend vorkommen, wenn Sie wirklich mit Freude bei der Sache sind und ein gewisses Talent mitbringen. Vielleicht leben Sie ja schon längst nach so einem Programm. Wenn Sie aber meinen, Sie brauchten die Erlaubnis, um all das zu lesen und zu schreiben, was Ihr kleines Herz begehrt, so betrachten Sie sie hiermit als von meiner Wenigkeit erteilt.
Das wirklich Wichtige an der Lektüre ist die Ungezwungenheit und Vertrautheit, die zum Schreibprozess hergestellt wird; der Belesene betritt das Land der Schriftsteller mit gültigen Papieren und Ausweisen. Regelmäßiges Lesen versetzt Sie in die Lage (oder in eine Geistesverfassung, wenn Sie den Begriff bevorzugen), eifrig und unbefangen zu schreiben. Außerdem wächst so beständig Ihr Wissen über das, was es schon gibt und was nicht, was abgeschmackt ist und was neu, was funktioniert und was wie sterbend (oder auch schon tot) auf dem Papier liegt. Je mehr Sie lesen, desto weniger werden Sie sich mit Ihrem Stift oder Computer zum Narren machen.
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Wenn das Erste Gebot »Viel lesen, viel schreiben« lautet – und es lautet tatsächlich so, das kann ich Ihnen versichern -, was ist dann unter »viel« zu verstehen? Das ist natürlich bei jedem Schriftsteller anders. Eine meiner Lieblingsgeschichten zu diesem Thema handelt von James Joyce 8 und ist wahrscheinlich eher Dichtung als Wahrheit. Angeblich kam ihn eines Tages ein Freund besuchen, der den großen Dichter tief verzweifelt auf seinem Schreibtisch liegen sah.
»James, was ist los?«, fragte der Freund. »Ist es die Arbeit?«
Ohne den Kopf zu heben und den Freund anzusehen, stimmte Joyce zu. Natürlich war es die Arbeit; ist es doch immer, oder?
»Wie viele Wörter hast du heute geschafft?«, fragte der Freund weiter.
Joyce (immer noch verzweifelt, das Gesicht immer noch auf dem Tisch): »Sieben.«
»Sieben? Aber, James … das ist doch gut , bei dir wenigstens!«
»Ja«, sagte Joyce und blickte schließlich auf. »Wahrscheinlich schon … aber ich weiß nicht, in welche Reihenfolge sie gehören!«
Am anderen Ende der Skala stehen Schriftsteller wie Anthony Trollope. Er verfasste gigantische Romane ( Can You Forgive Her? ist wahrscheinlich ein ganz gutes Beispiel; gemessen am heutigen Publikum könnte der Titel lauten: Schaffen Sie das überhaupt? ). Und er lieferte sie mit erstaunlicher Regelmäßigkeit ab. Tagsüber war er Angestellter bei der englischen Post (die roten Briefkästen in ganz Großbritannien sind Anthony Trollopes Erfindung); er schrieb jeden Morgen zweieinhalb Stunden, bevor er zur Arbeit ging. Dieser Stundenplan war unveränderlich. Wenn er bei Ablauf der zweieinhalb Stunden gerade mitten in einem Satz war, ließ er ihn bis zum nächsten Morgen unvollendet. Und schloss er eines seiner sechshundert Seiten langen Schwergewichte fünfzehn Minuten vor Arbeitsende ab, so schrieb er The End, legte das Manuskript zur Seite und machte sich ans nächste Buch.
John Creasey, ein englischer Krimiautor, schrieb fünfhundert (ja, Sie lesen richtig) Romane unter zehn verschiedenen Namen. Ich habe um die fünfunddreißig geschrieben, einige davon so lang wie die von Trollope, und gelte als produktiv, doch wirke ich neben Creasey wie ein Künstler mit Schreibhemmung. Einige andere zeitgenössische Autoren (darunter Ruth Rendell/Barbara Vine, Evan Hunter/Ed McBain, Dean Koontz und Joyce Carol Oates) haben mindestens genauso viel geschrieben wie ich, manche beträchtlich mehr.
Auf der anderen Seite, der Seite von James Joyce, steht beispielsweise Harper Lee, die nur ein Buch geschrieben hat (das brillante Wer die Nachtigall stört … (Originaltitel: To Kill a Mockingbird ). Viele andere, darunter James Agee, Malcolm Lowry und Thomas Harris (bis jetzt), verfassten nicht mehr als fünf Bücher. Das ist ja in Ordnung, aber ich frage mich immer zweierlei im Zusammenhang mit ihnen: Wie lange brauchten sie, um ihre Bücher zu schreiben, und was machten sie den Rest der Zeit? Teppiche knüpfen? Kirchenbasare organisieren? Pflaumen vergöttlichen? Klingt wahrscheinlich etwas patzig, aber es interessiert mich wirklich, ehrlich. Wenn Gott einem eine Begabung schenkt, warum, um Himmels willen, nutzt man sie dann nicht?
Mein Tagesablauf ist ziemlich streng geregelt. Der Morgen gehört dem Neuen, der aktuellen Arbeit. Der Nachmittag einem Nickerchen und Briefen. Der Abend ist reserviert fürs Lesen, die Familie, Spiele der Red Sox im
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