Das Leben und das Schreiben
Vorsichtsmaßnahmen berücksichtigt, und zweitens bin ich der Meinung, dass sich eine vorskizzierte Handlung nicht mit der spontanen Entstehung von Texten vereinbaren lässt. Am besten drücke ich mich an dieser Stelle so deutlich wie möglich aus: Ich bin überzeugt, dass sich Geschichten in erster Linie selber erschaffen. Der Schreiber hat die Aufgabe, ihnen einen Ort zur Verfügung zu stellen, an dem sie sich entwickeln können, und sie natürlich schriftlich festzuhalten. Wenn Sie das auch so sehen (oder es wenigstens versuchen), dann können wir ganz gut zusammenarbeiten. Wenn Sie allerdings glauben, ich ticke nicht richtig, auch gut. Sie sind nicht der Erste.
Geschichten sind Fundstücke, wie Fossilien im Boden. Als ich das dem Reporter (Mark Singer) bei einem Interview für The New Yorker erzählte, antwortete er, das glaube er mir nicht. Ich erwiderte, das sei in Ordnung, solange er nur glaube, dass ich davon überzeugt sei. Und das bin ich wirklich. Geschichten sind keine Souvenir-T-Shirts oder Gameboys. Geschichten sind Überbleibsel, Teile einer noch unentdeckten, seit jeher bestehenden Welt. Die Aufgabe des Schriftstellers ist es, jede Geschichte mit den Instrumenten seines Werkzeugkastens so unbeschädigt wie möglich aus dem Boden zu heben. Manchmal legt man ein kleines Fossil frei: eine Muschel. Manchmal ist es riesengroß, ein Tyrannosaurus Rex mit gigantischen Knochen und grinsendem Schädel. Doch ob Kurzgeschichte oder Mammutwerk von tausend Seiten, die Ausgrabungstechnik ist im Grunde die gleiche.
Egal wie gut Sie sind, egal wie viel Erfahrung Sie besitzen, es wird wahrscheinlich nicht möglich sein, das gesamte Fossil ohne einige Schrammen oder Macken freizulegen. Um das meiste herauszuholen, muss der Spaten feinerem Werkzeug weichen: Druckluft, Handmeißel, vielleicht sogar einer Zahnbürste. Die Handlung ist ein weitaus größeres Werkzeug, der Presslufthammer des Autors. Man kann ein Fossil mit dem Presslufthammer im harten Boden freilegen, keine Frage, aber Sie wissen so gut wie ich, dass der Hammer fast genauso viel zerstört, wie er freilegt. Er ist schwerfällig, mechanisch, unkreativ. Ein Plotschema ist in meinen Augen die letzte Zuflucht des guten Schriftstellers und die erste Wahl des Einfaltspinsels. Eine solche Geschichte kann nur künstlich und konstruiert klingen.
Ich verlasse mich lieber mehr auf die Intuition, und das war bisher möglich, weil meine Bücher eher situations- statt handlungsbasiert sind. Manche der diesen Büchern zugrunde liegenden Ideen waren komplexer als andere, aber die meisten sind anfangs so schlicht und statisch wie eine Schaufensterdekoration oder ein Mottobild im Wachsfigurenkabinett. Ich versetze Figuren (manchmal zwei, vielleicht auch nur eine) in einen Konflikt irgendeiner Art und sehe dann zu, wie sie versuchen, sich aus ihrem Dilemma zu befreien. Meine Aufgabe ist es nicht, ihnen beim Freischaufeln ihres Weges zu helfen , oder ihnen Sicherheit zu verschaffen – für solche Arbeiten benötigt man den lärmigen Presslufthammer eines Handlungsschemas -, sondern das Geschehen zu beobachten und es schriftlich festzuhalten.
Die Situation ist der Ausgangspunkt. Dann kommen die Figuren, anfangs sind sie immer flach und konturlos. Sobald beides in meinem Kopf feststeht, fange ich an zu erzählen. Oft habe ich eine gewisse Vorstellung, wie das Ganze ausgehen könnte, aber noch nie habe ich von den Figuren verlangt, dass sie so handeln, wie ich es erwarte. Ganz im Gegenteil: Sie sollen auf ihre Weise handeln. In manchen Fällen geht es so aus, wie ich mir vorgestellt habe. Meistens aber nimmt es ein Ende, mit dem ich niemals gerechnet hätte. Für jemanden, der Thriller schreibt, ist das etwas Tolles. Schließlich bin ich nicht nur der Autor des Romans, sondern auch sein erster Leser. Und wenn selbst ich , der ich das zukünftige Geschehen kenne, nicht mit Sicherheit weiß, wie sich das verfluchte Ding entwickelt, dann kann ich schon stark davon ausgehen, dass der Leser später gespannt Seite um Seite umblättern wird. Warum soll man sich überhaupt so viele Gedanken über das Ende machen? Warum immer alles unter Kontrolle haben? Früher oder später findet jede Geschichte irgendwo ihren Ausgang.
Anfang der Achtziger flog ich mit meiner Frau teils geschäftlich, teils zum Vergnügen, nach London. Im Flugzeug schlief ich ein und träumte von einem bekannten Schriftsteller (vielleicht war ich es selbst, vielleicht auch nicht, jedenfalls war es
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