Das Leben und das Schreiben

(Originaltitel: The Dead Zone ). (Den mag ich sogar ganz besonders, um ehrlich zu sein). Ein anderes Buch von mir, Sara (Originaltitel: Bag of Bones ), das geplottet wirkt , ist hingegen ebenfalls situationsbasiert: »Verwitweter Schriftsteller in einem Spukhaus«. Die Hintergrundgeschichte von Sara ist zufriedenstellend gruselig (fand ich wenigstens) und sehr komplex, aber nicht eine einzige Szene wurde mit Vorsatz verfasst. Die Vergangenheit des Gebiets TR 90 und die Auflösung, was die Frau des verwitweten Autors Mike Noonan im letzten Sommer ihres Lebens tatsächlich gemacht hat, ergab sich spontan – in anderen Worten: All diese Einzelheiten waren Teil des Fossils.
    Eine ausreichend fesselnde Ausgangssituation macht die ganze Frage nach dem Handlungsfaden überflüssig, und das ist mir recht. Die interessantesten Situationen lassen sich oft mit einer Was wäre, wenn?- Frage umschreiben:
    Was wäre, wenn Vampire in ein kleines Dorf in Neuengland einfielen? (Brennen muss Salem )
    Was wäre, wenn ein Polizist in einer entlegenen Stadt in Nevada durchdrehte und jeden umbrächte, der ihm vor die Linse kommt? ( Desperation , Originaltitel: Desperation )
    Was wäre, wenn eine Haushälterin, die ungestraft ihren Ehemann umgebracht hat, eines zweiten Mordes verdächtigt würde, den sie nicht begangen hat (an ihrer Arbeitgeberin)? ( Dolores , Originaltitel: Dolores Claiborne )
    Was wäre, wenn eine junge Mutter mit ihrem Sohn in einem liegen gebliebenen Wagen von einem tollwütigen Hund bedroht wird? ( Cujo )
    Das alles sind Situationen, die mir beim Duschen, beim Autofahren, bei meinem täglichen Spaziergang einfielen und die ich schließlich zu Büchern verarbeitete. Keine einzige war geplottet, es existiert nicht einmal eine einzige Zeile auf einem Stück Schmierpapier, obwohl manche von ihnen ( Dolores beispielsweise) annähernd so komplex sind wie in Krimis mit Mordfällen. Und bitte nicht vergessen, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen Geschichte und Handlung. Geschichte ist ehrenwert und vertrauenswürdig; Handlung ist unzuverlässig und wird am besten unter Hausarrest gestellt.
    Sicherlich wurde jeder der zuvor genannten Romane noch beim Redigieren geschliffen und ausformuliert, doch die meisten Elemente waren von Anfang an vorhanden. »Ein Film sollte schon vor den Dreharbeiten als Rohfassung im Kopf existieren«, sagte mir der Film-Cutter Paul Hirsch einmal. Das Gleiche gilt für Bücher. Ich bin der Ansicht, dass man fehlende Kohärenz oder eine langweilige Erzählung nur selten mit geringfügigen Änderungen in der zweiten Fassung beheben kann.
    Das hier ist kein Lehrbuch, deshalb enthält es auch nicht viele Übungen, aber an dieser Stelle würde ich Ihnen gern eine anbieten, falls Sie das Gefühl haben, das ganze Gerede über Situation statt Handlung ist nichts als verworrener Schwachsinn. Ich werde Ihnen zeigen, wo ein Fossil versteckt ist. Ihre Aufgabe ist es, auf fünf oder sechs Seiten frei von diesem Fossil zu erzählen. In anderen Worten: Sie sollen nach den Knochen graben und schauen, wie sie aussehen. Ich glaube, dass Sie das Ergebnis überraschen und erfreuen wird. Fertig? Los geht’s!
    Wohl jeder kennt die Grundzüge der folgenden Geschichte; mit leichten Änderungen taucht sie ungefähr jede zweite Woche auf der Seite mit den Polizeinachrichten in Ihrer Tageszeitung auf. Eine Frau, nennen wir sie Jane, heiratet einen fröhlichen, gescheiten Mann, der vor sexueller Anziehungskraft nur so vibriert. Er soll Dick heißen, das ist wohl der freudianischste Name der Welt. Leider besitzt Dick auch eine dunkle Seite; er ist aufbrausend, herrschsüchtig und vielleicht sogar paranoid (das finden Sie heraus, wenn er redet und handelt). Jane bemüht sich nach Kräften, über Dicks Fehler hinwegzusehen und die Ehe vor dem Scheitern zu bewahren (warum sie sich so anstrengt, werden Sie auch herausfinden; bei ihrem Auftritt wird sie es Ihnen verraten). Die beiden bekommen ein Kind, und eine Weile läuft es besser. Als das Mädchen dann ungefähr drei Jahre ist, beginnen die Misshandlungen und Eifersuchtstiraden von Neuem. Zuerst sind diese Misshandlungen nur verbal, dann auch körperlich. Dick ist überzeugt, dass Jane mit jemandem schläft, vielleicht jemand von der Arbeit. Ist es jemand Bestimmtes? Keine Ahnung, ist mir auch egal. Vielleicht verrät Ihnen Dick am Ende, wen er in Verdacht hat. Wenn ja, wissen wir beide Bescheid, nicht wahr?
    Irgendwann hält es die arme Jane nicht mehr aus. Sie