Das Leben und das Schreiben

Handlung.
    (Eine unterhaltsame Bemerkung am Rande: Der größte Anhänger des Plottens im 20. Jahrhundert war wohl Edgar Wallace, ein wie am Fließband produzierender Bestsellerautor aus den 1920er-Jahren. Wallace erfand eine Vorrichtung namens Edgar Wallace Plot Wheel und ließ sie sich patentieren. Wenn man beim Geschichtenschreiben stecken blieb oder schnell mal eine verblüffende Wende der Ereignisse brauchte, drehte man einfach am Rad und las, was im Fenster erschien: ein zufälliger Besuch vielleicht oder Heldin gesteht ihre Liebe. Diese Apparate gingen offenbar weg wie warme Semmeln.)
    Als ich im Brown’s Hotel den ersten Abschnitt beendet hatte, in dem Paul Sheldon aufwacht und merkt, dass er Annie Wilkes’ Gefangener ist, glaubte ich zu wissen, was weiter passieren würde. Annie würde von Paul verlangen, einen letzten Roman über seine mutige Hauptfigur Misery Chastain zu schreiben, jedoch für Annie ganz allein. Nach anfänglichen Einwänden erklärt sich Paul natürlich einverstanden (eine psychotische Krankenschwester, dachte ich, kann ganz schön überzeugend sein). Annie sagt ihm, sie wolle ihr geliebtes Schwein Misery diesem Vorhaben opfern. Von Miserys Rückkehr , so sagt sie, solle es nur ein einziges Exemplar geben: ein in Schweineleder gebundenes Original-Manuskript!
    Hier blenden wir aus, dachte ich, und kehren zum überraschenden Ende sechs oder acht Monate später in Annies abgelegenes Haus in Colorado zurück.
    Paul ist nicht mehr da, sein Krankenzimmer ist ein Schrein zu Ehren von Misery Chastain, doch das Schwein Misery ist noch immer sehr lebendig und grunzt vergnügt in seinem Stall neben der Scheune. An den Wänden des »Misery-Zimmers« hängen Buchumschläge, Fotos aus Misery-Filmen, Bilder von Paul Sheldon, vielleicht eine Zeitungsmeldung mit der Schlagzeile BERÜHMTER AUTOR NOCH IMMER VERMISST. In der Mitte des Zimmers liegt auf einem kleinen Tisch (zu Ehren von Mr. Kipling natürlich aus Kirschbaum) ein liebevoll ausgeleuchtetes Buch. Es ist die Annie-Wilkes-Ausgabe von Miserys Rückkehr . Sie ist wunderschön gebunden, aus gutem Grund: Es ist die Haut von Paul Sheldon. Und Paul selbst? Seine Knochen sind vielleicht hinter der Scheune vergraben, aber ich hielt es für wahrscheinlich, dass das Schwein die leckeren Teile gefressen hatte.
    Keine schlechte Idee, daraus würde sich eine recht gute Geschichte stricken lassen (jedoch kein guter Roman, denn niemand hat Lust, dreihundert Seiten lang um einen Typen zu bangen, nur um zu erfahren, dass er zwischen Kapitel 16 und 17 vom Schwein gefressen wurde), aber tatsächlich entwickelte sich alles ganz anders. Paul Sheldon erwies sich als weitaus einfallsreicher, als ich anfangs gedacht hatte, und seine Anstrengungen, Scheherezade zu spielen und dadurch sein Leben zu retten, gaben mir Gelegenheit, von der erlösenden Kraft des Schreibens zu erzählen, die ich zwar schon lange gespürt, aber noch nie hatte in Worte fassen können. Auch Annie wurde vielschichtiger, als ich sie mir zuerst vorgestellt hatte. Es machte Riesenspaß, sie darzustellen: diese Frau, der nichts Schlimmeres über die Lippen kommt als »bedummdusselt«, die jedoch keinerlei Hemmungen hat, ihrem Lieblingsautor den Fuß abzuhacken, als er vor ihr zu flüchten versucht. Am Ende hatte ich das Gefühl, dass Annie ebenso sehr zu bemitleiden wie zu fürchten war. Und kein Ereignis, keine überraschende Wendung ging aus einem Handlungsentwurf hervor; alles entstand organisch, alles ergab sich natürlich aus der anfänglichen Situation, alles gehörte zum freigelegten Fossil im Boden. All dies schreibe ich mit einem Lächeln im Gesicht. Obwohl ich damals alkoholkrank und drogensüchtig war, hatte ich doch sehr viel Spaß mit diesem Roman.
    Das Spiel (Originaltitel: Gerald’s Game ) und Das Mädchen (Originaltitel: The Girl Who Loved Tom Gordon ) sind zwei weitere rein aus der Situation entwickelte Romane. Wenn es in Sie um »zwei Menschen in einem Haus« geht, dann handelt Das Spiel von »einer Frau im Schlafzimmer« und Das Mädchen von »einem Kind, das sich im Wald verläuft«. Wie schon gesagt, auch ich habe geplottete Romane verfasst, aber die Resultate, Bücher wie Schlaflos (Originaltitel: Insomnia ) und Das Bild – Rose Madder (Originaltitel: Rose Madder ), gehören nicht zu meinen besten Werken. Auch wenn ich es nicht gern zugebe: Das sind steife, bemühte Versuche. Der einzige handlungsgesteuerte Roman, den ich wirklich mag, ist Dead Zone – Das Attentat