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Das Leben und das Schreiben

Das Leben und das Schreiben

Titel: Das Leben und das Schreiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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ich denke, es sollten mindestens sechs Wochen sein. In dieser Zeit sollte Ihr Manuskript sicher in einer Schublade weggeschlossen sein, wo es altert und (hoffentlich) reift. Ständig werden Ihre Gedanken zu ihm zurückkehren, und wahrscheinlich werden Sie ein Dutzend Mal oder öfter versucht sein, das Manuskript herauszunehmen, vielleicht nur um einen bestimmten Abschnitt noch einmal zu lesen, den Sie als besonders gelungen in Erinnerung haben und den Sie sich noch einmal auf der Zunge zergehen lassen möchten, damit Sie wieder in dem Gefühl schwelgen können, was für ein hervorragender Autor Sie sind.
    Widerstehen Sie dieser Versuchung! Wenn nicht, ist es mehr als wahrscheinlich, dass Sie zu der Ansicht gelangen, der Abschnitt sei doch nicht so gut, wie Sie dachten, und es wäre besser, ihn auf der Stelle zu überarbeiten. Das ist schlecht. Schlimmer für Sie kann nur noch sein, dass Sie den Eindruck gewinnen, die Textstelle sei noch besser , als Sie sie in Erinnerung hatten – da können Sie gleich alle Vorsätze fahren lassen und das Buch direkt noch einmal lesen, oder? Setzen wir uns wieder dran! Teufel auch, Sie sind bereit! Sie sind ein richtiger Shakespeare!
    Sind Sie natürlich nicht, und Sie sind nicht eher bereit, es mit dem alten Projekt aufzunehmen, bevor Sie sich nicht gründlich in ein neues vertieft haben oder wieder vollkommen im Alltag involviert sind. Sie müssen den unwirklichen Zustand so gut wie vergessen haben, der über drei, fünf oder sieben Monate drei Stunden jeden Vor- oder Nachmittag einnahm.
    Wenn dann der richtige Abend kommt (den Sie vielleicht sogar auf Ihrem Kalender im Büro markiert haben), holen Sie das Manuskript aus der Schublade. Wenn es wie ein fremdartiges Relikt aussieht, das Sie in einem Kramladen oder auf dem Flohmarkt erstanden haben, an den Sie sich kaum noch erinnern können, ist es so weit. Nehmen Sie bei geschlossener Tür Platz (sie wird früh genug wieder der Welt geöffnet werden), nehmen Sie einen Stift in die Hand, und legen Sie einen Block bereit. Dann lesen Sie das Manuskript.
    Lesen Sie es auf einmal, wenn das geht (bei einem vier-oder fünfhundert Seiten starken Wälzer ist das natürlich nicht möglich). Sie können sich so viele Notizen machen, wie Sie wollen, aber konzentrieren Sie sich in erster Linie auf die nüchterne Aufräumarbeit wie die Korrektur von Rechtschreibfehlern und das Auffinden von Widersprüchen. Davon wird es eine Menge geben – nur Gott macht es schon beim ersten Mal richtig, und nur ein Pfuscher sagt: »Ach, was soll’s, wofür gibt es einen Lektor?«
    Beim ersten Mal wird es eine seltsame, oft erheiternde Erfahrung für Sie sein, das eigene Buch nach sechs Wochen Reifung erneut zu lesen. Es ist Ihres, Sie erkennen es als das Ihre, können sich sogar an das Lied erinnern, das gerade lief, als Sie bestimmte Zeilen zu Papier brachten, und doch fühlt es sich auch an, als läsen Sie die Arbeit eines anderen, eines Geistesverwandten vielleicht. So sollte es sein, aus diesem Grund haben Sie so lange gewartet. Es ist immer leichter, die Lieblinge eines anderen zu töten als die eigenen.
    Nach sechs Wochen Erholung werden Ihnen auch die gähnenden Löcher in der Handlung oder in der Figurenentwicklung auffallen. Damit meine ich Löcher, durch die ein Lastwagen fahren könnte. Es ist erstaunlich, was dem Schreiber entgeht, wenn er mit der täglichen Arbeit des Verfassens beschäftigt ist. Und jetzt hören Sie gut zu: Es ist streng verboten, sich deswegen entmutigt zu fühlen oder sich selbst zu kasteien, wenn Sie einige dieser großen Löcher finden. Bockmist passiert den Besten von uns. Es gibt eine Anekdote, dass der Architekt des Flatiron-Gebäudes in New York Selbstmord beging, als er kurz vor der Einweihungszeremonie bemerkte, dass er vergessen hatte, in dem Prototyp seines Wolkenkratzers die Herrentoiletten einzuplanen. Stimmt wahrscheinlich nicht, aber halten Sie sich immer vor Augen: Auch die Titanic wurde von Menschen gebaut und für unsinkbar erklärt.
    Die krassesten Fehler, die ich beim Überarbeiten finde, haben bei mir immer mit der Motivation der Figuren zu tun (ist verwandt mit der Figurenentwicklung, aber nicht ganz dasselbe). Dann schlage ich mir mit der flachen Hand vor die Stirn, greife zum Block und schreibe beispielsweise: S. 91: Sandy Hunter klaut einen Dollar aus Shirleys Versteck in der Versandabteilung. Wieso? Herrgott, so was würde Sandy NIEMALS tun! Zusätzlich markiere ich die Seite im Manuskript mit einem

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