Das Leben Zimmer 18 und du
Verstand gedrängt und alle anderen Gedanken von einer Sekunde auf die andere in unerreichbare Ferne geschoben. Nur eine Frage bleibt: Hat er mich wiedererkannt? Weiß er, dass wir in derselben Depressionsrunde gesessen haben?
Ich atme ein.
Eisblaue Augen schieben sich erneut in meinen Sinn.
Ich atme aus.
Ob er lange in der Cafeteria bleibt?
Ich atme ein.
Soll ich hier sitzen bleiben?
Ich atme aus.
Und wenn er denkt, dass ich auf ihn gewartet habe?
Ich atme ein.
Und tatsächlich. Die Tür öffnet sich wieder.
Mittlerweile besitze ich das Talent, gar nicht mehr zu realisieren, ob jemand neben ihm geht oder er alleine ist. In diesem Moment sehe ich wieder nur ihn.
Bastian.
In zielstrebigen Schritten nähert er sich. Doch diesmal spüre ich sofort, dass es nicht bei einem Schweigen bleiben wird.
„Alles gut?“, fragt er, als er einen knappen Meter vor mir steht.
Irgendwo im Augenwinkel ist noch jemand anderes. Der andere Patient? Ich glaube, er ist mittlerweile schon auf die Station gegangen. Bastian jedoch steht immer noch vor mir.
„Du bist aus meiner Depressionsgruppe, richtig?“, erwidere ich, als überkäme mich diese Erkenntnis erst in diesem Moment.
Er nickt.
„Ja“, fahre ich schließlich fort. „Alles gut.“
Ich will etwas Kluges sagen. Etwas, das ihn zum Bleiben bewegt, doch mir will einfach nichts einfallen. Wortlos schaue ich ihn an und versinke mit jeder verstreichenden Sekunde ein Stück tiefer in seinen Augen.
Welch ein Klischee!
Bastian nickt mir erneut zu. Ein Nicken, das vermutlich so viel wie „Man sieht sich“ bedeuten soll. Dann wendet er sich ab und berührt den Türöffner zu seiner Station, auf der er keine Sekunde später verschwindet.
Ich fühle mich wie das „Dirty Dancing“-Baby in der Wassermelonen-Szene, als ich ihm hinterherschaue.
Habe ich etwas Falsches gesagt?
Nein. Es war ja nur der Austausch von Höflichkeitsfloskeln. Nichts, das man überbewerten sollte.
Trotzdem ist es genau das, was ich tue. Ich bewerte über. Ich suhle mich regelrecht im Überbewerten.
Sein Blick. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen, während er mich besorgt mustert. Alles verschwimmt zu einem Bild, das sich in meinen Verstand meißelt und mich immer wieder auf dieselbe Frage bringt: Interessiert er sich für mich? Oder war es reine Höflichkeit, sich nach meinem Befinden zu erkundigen?
Ich schaue erneut zur Seite, durch die gläserne Eingangstür auf seine Station herüber. Von hier aus kann ich niemanden sehen.
Ich starre erneut auf mein Handy, schiebe es schließlich in die Tasche meiner Sweatjacke und stehe auf. Ich will nicht, dass ich noch immer hier sitze, wenn er zurückkommt. So sehr ich mich auch freue, ihn zu sehen, die Vorstellung, er könnte den Grund meiner Anwesenheit vor dem Kaffeeautomaten durchschauen, ist mir mehr als unangenehm.
Mit einem letzten Blick durch die Glastür wende ich mich schließlich ab und gehe zurück auf meine Station.
Mein Bett wartet. Das Abendessen auch. Und Hanna.
Kapitel 5 – Das Leben ist keine Tanzfläche
Der Sirup zerläuft wie flüssiges Glück auf meinem Vollkornbrot. Nichts könnte weniger zum Abendessen passen, trotzdem (oder gerade deshalb) genieße ich meine abendliche Kaloriensünde auch an diesem Nachmittag, den man uns jeden Tag aufs Neue als Abend auszugeben versucht.
Nein. Kurz nach fünf ist kein Abend. Allenfalls das Ende eines Nachmittags. Trotzdem scheint man hier der festen Überzeugung zu sein, dass jede Aktivität nach fünf so etwas wie die letzte Zuckung vor der Nachtruhe ist.
Der Aufenthaltsraum, in dem die Patienten ihre Mahlzeiten zu sich nehmen, ist mittlerweile zu einem vertrauten Fleckchen Klinik geworden. Einer der wenigen Orte, der nicht an Krankenhaus erinnert und mit dem unscheinbaren Fernsehgerät in der Ecke des Raumes und den Gesellschaftsspielen auf dem Fensterbrett zumindest einen Hauch Normalität vorzutäuschen versucht.
Ich beiße in mein Brot und schaue zu Hanna herüber, die sich gemeinsam mit Ingo, einem bierbäuchigen Grinsebären in den Vierzigern, über irgendetwas Belangloses amüsiert.
Sie kennt Ingo schon seit Jahren aus diversen Einrichtungen und Rehabilitationsmaßnahmen. Beide scheinen ihre Krankheit akzeptiert zu haben und sie anzunehmen, ähnlich wie ein faustgroßes Muttermal im Gesicht, das nicht schön ist, aber aus dem richtigen Blickwinkel nicht mehr zu sehen ist.
Ihre Unbeschwertheit imponiert mir auch an diesem Abend.
Beinahe schon aufdringliches Lachen,
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