Das Leben Zimmer 18 und du
fragst, ob es Zeit es umzukehren
Wenn dort, wo dein Ziel ist, kein Licht brennt
Und die Sonne im Meer versinkt
Wenn der Tag friert und die Zeit dir davonrennt
Und die Strömung dein Boot ins Dunkle lenkt
Dann lass die Zeit los, um sie heilen zu lassen
Und behalte die Ruder in der Hand
Irgendwann wird die Boje im Wasser
Zu deinem eigenen Stückchen Land
© Nancy Salchow
„Bekommst du morgen Besuch?“, fragt Hanna, während sie sich einen weiteren Keks in den Mund schiebt.
Irritiert schaue ich vom Netbook auf, als hätte mich der Weckruf aus einer anderen Welt erreicht. Eine Welt, die ich zwischenzeitlich immer wieder zu vergessen scheine.
„Ja“, antworte ich leise. „Mein Mann kommt.“
*
„Und, Frau Salchow?“ Die Ergotherapeutin strahlt mich an. „Haben Sie sich schon überlegt, was Sie heute machen wollen?“
„Wenn Sie mich so fragen: schreiben!“ Ich zwinkere ihr zu, während ich auf dem Hocker vor der Arbeitsbank Platz nehme.
„Schreiben können Sie heute Abend auf Ihrem Zimmer. Hier müssen Sie sich leider für etwas anderes entscheiden.“
„Ich weiß“, antworte ich müde.
Fragend schaut sie mich an, zumindest mit dem Auge, das nicht gläsern ist. Ein Motorradunfall vor vielen Jahren, der sie beinahe das Augenlicht gekostet hat. Oder war es ein Feuer?
„Es muss doch irgendetwas geben, an dem Sie Freude haben“, entgegnet sie mit bemüht positiver Stimme. „Sie können mit Ton arbeiten oder mit Holz, Körbe flechten oder aber …“
„Bloß nicht wieder Körbe flechten“, falle ich ihr mit abwehrender Handbewegung ins Wort. „Das letzte Mal hat mir gereicht.“
„Und wenn wir es heute mal mit Ton versuchen?“
Ich staune über ihre Unermüdlichkeit.
„Warum nicht?“ Ich lasse meine Schultern sinken. „Wir können es ja mal probieren.“
„Vielleicht ein schönes Namensschild für Ihre Tür zu Hause?“
„Von mir aus.“
Meine mauligen Antworten beginnen, selbst mich zu nerven, doch ich kann nicht aus meiner Haut. Viel zu lähmend ist die Langeweile, viel zu stumpf die Sinnlosigkeit der Tätigkeiten, denen wir uns im Rahmen der Ergotherapie widmen. Tätigkeiten, mit denen wir uns nicht etwa beschäftigen, weil wir es wollen, aber die wir wollen, weil man uns weismacht, dass wir wollen, was sie aus uns machen.
Ein ziemlich gewollter Gedanke.
„Sei froh“, flüstert mir Carmen zu, die auf dem Hocker neben mir sitzt und Blumen in ein Stück feuchten Ton ritzt. „Ich hab gehört, in Gruppe B werden stattdessen Kartenspiele für Erstklässler gespielt.“
„Na da haben wir ja was, auf das wir uns freuen können“, antworte ich augenrollend.
Die Ergotherapeutin, deren Namen ich mir selbst nach der fünften Sitzung noch immer nicht gemerkt habe, legt einen Klumpen Ton auf den Tisch und reicht mir ein Nudelholz.
„Zum Glattrollen“, erklärt sie – und ich folge Ihrer Aufforderung.
Ich rolle auf.
Ich rolle ab.
Auf.
Ab.
Wieder besudeln mich die Gedanken wie unermüdliche Mücken ein nacktes Bein.
Auf.
Was tue ich hier eigentlich?
Ab.
Wie soll mir eine stumpfsinnige Tätigkeit wie diese dabei helfen, wieder gesund zu werden?
Auf.
Viel eher habe ich den Eindruck, durch so eine Arbeit erst recht depressiv zu werden.
Ab.
Die Therapeuten reden von Zusammengehörigkeitsgefühl.
Auf.
Und davon, wie sehr Tätigkeiten wie diese die Zusammengehörigkeit fördern.
Ab.
Ich presse das Holz fester in den Ton, als könnte allein dieser Griff meine Gedanken abwürgen. Doch weder meine Gedanken noch meine Emotionen lassen sich abwürgen. Stattdessen flimmert immer wieder dieselbe Frage vor meinem inneren Auge auf: Habe ich mich verliebt? Habe ich mich wirklich verliebt? Verliebt, obwohl ich diesen Mann überhaupt nicht kenne? Verliebt, obwohl ich bisher nur ein paar belanglose Sätze mit ihm gewechselt habe? Verliebt, obwohl ich verheiratet bin?
Ich rolle auf.
Ab.
Auf.
Ab.
Und plötzlich weiß ich es. Ich habe es vom ersten Moment an gewusst.
Kapitel 6 – Das Monster im Kopf
Seine Hand streichelt langsam über meinen Arm, während er meine Wange küsst.
„Und haben die Ärzte schon gesagt, wie lange du noch hier bleiben musst?“ David stellt die Tüte mit den gewaschenen Klamotten auf den Boden und setzt sich neben mich aufs Bett.
„Ich weiß ja selbst noch gar nicht, wann ich nach Hause will“, antworte ich monoton. „Außerdem komme ich vermutlich vorher sowieso erst für zwei, drei Wochen in die Gruppe B.“
„Hm“, brummt
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