Das Leben Zimmer 18 und du
habe? Oder verdanke ich meine Besserung tatsächlich wieder nur den Beruhigungstabletten?
Die Tabletten. Mittlerweile bekomme ich nur noch morgens und abends eine halbe. Ebenfalls ein durchaus positives Zeichen. David und mein Vater, aber auch mein älterer Bruder Paul sind in dieser Zeit meine einzigen Besucher. Mehr Menschen möchte ich auch gar nicht sehen.
David.
Unterbewusst frage ich mich, ob ich ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen haben muss, weil mein heimliches Ausschauhalten nach Bastian zur täglichen Mission geworden ist. Doch schon im nächsten Augenblick wird mir klar, dass es keinen Grund für moralische Bedenken gibt. Ich betrüge ihn schließlich nicht, abgesehen davon beruht meine Neugier Bastian gegenüber aller Voraussicht nach nicht auf Gegenseitigkeit und last but not least kann es für meine Genesung nur von Vorteil sein, dass ich mir meine eigene kleine Alltagsmission erschaffen habe, wenn auch ungeplant. Schließlich ist es genau das, was uns die Therapeuten und Ärzte seit meiner Einweisung predigen: Aufgaben schaffen, kleine Ziele und Missionen.
Und ja, David gibt sich große Mühe, für mich da zu sein. Beinahe täglich ist er in der Klinik, bringt mir neue Klamotten oder Obstsäfte und versucht, mir in dieser Zeit durch seine Anwesenheit ein Trost zu sein. Dass er kein besonders emotionaler Mensch ist, mit meiner exzentrischen Art nie wirklich umzugehen wusste und sich stattdessen lieber zurückzog, wenn ich in meiner Suche nach beruhigenden Worten immer und immer wieder seine Unterstützung suchte, werfe ich ihm zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vor, weil ich nach all den Jahren endlich eines begriffen habe: Er kann nichts dafür. Es ist seine Art, die Dinge eher sachlich zu betrachten. Eine Eigenschaft, um die ich ihn in meinem jetzigen Zustand beinahe beneide, da mir Sachlichkeit vieles vereinfachen würde.
Aber ich bin weder sachlich noch einfach. Ebenso wenig sind es die Gedanken, die mir durch den Kopf gehen. Ich weiß, dass David auf seine Weise versucht, mir ein Halt zu sein. Und vielleicht ist das alles, worauf es in diesem Moment ankommt.
Oder das, worauf es ankommen sollte ?
Ich bin verwirrt. Und doch ist alles so deutlich: Mein Herz hat das Kommando übernommen und gibt mir unweigerlich zu verstehen, was mir gerade gut tut.
Doch der Wunsch, Bastian wiederzusehen und die Frage, ob er überhaupt noch in der Klinik ist, rücken in den Hintergrund, als sich mir ein neues Problem in den Weg stellt: Die Suche nach einem Therapeuten. Es steht fest, dass ich nur so lange in der Klinik bleibe, bis ich auf meine Medikamente eingestellt bin, die eigentliche Therapie kann erst danach beginnen. Meine Optionen: Ein Platz in der Tagesklinik, wo ich als Teil einer Gemeinschaft therapiert werde oder Einzelgespräche mit einem Therapeuten, der meiner Krankheit zu Leibe rückt. Beide Möglichkeiten erfordern Zeit, bis sie überhaupt beginnen können – sowohl mit einem Platz in einer Tagesklinik als auch mit dem Glück, in die Kartei eines geeigneten Therapeuten aufgenommen zu werden, ist frühestens im Sommer zu rechnen. Die Patientenlisten sind lang und die Wartezeit verlangt einiges an Geduld ab.
Aber kann ich wirklich so lange warten?
Die Gewissheit, nach meiner Entlassung (wann auch immer diese sein wird) in erfahrenen Händen zu sein, wird immer wichtiger. Umso glücklicher bin ich über die Nachricht meiner Freundin Bianca, die mich am 8. März erreicht. Wir haben uns lange nicht gehört, auch diese Freundschaft ist eine von vielen, die im Laufe der letzten Jahre, in denen sich meine Krankheit entwickelte, im Sande verlief.
Doch Bianca ist niemand, der vorwirft, sie folgt lediglich dem Wunsch, mir mit ihrer Erfahrung in dieser schweren Zeit beizustehen, von der sie durch meine Online-Lebenszeichen erfahren hat. Denn Bianca weiß, wovon sie spricht. Sie selbst hat sich über Monate hinweg mit Panikattacken und Depressionen gequält und schlägt mir vor, ihre Beziehungen spielen zu lassen, um mich bei ihrem Therapeuten in Rostock unterzubringen. Ein Therapeut, der nicht nur einen hervorragenden Ruf genießt, sondern auch Bianca dabei geholfen hat, ihre Krankheit in den Griff zu bekommen.
Hoffnung keimt in mir auf. Hoffnung auf Hilfe. Hoffnung auf eine Rückkehr in mein altes Leben. Gleichzeitig ist es jedoch gerade mein altes Leben, das mir Angst macht. Eine Angst, die ich nicht so recht entschlüsseln kann.
Wovor habe ich Angst? Mein Mann liebt mich, mein Vater liebt mich,
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