Das lebendige Theorem (German Edition)
verwandelt … Die Kinder haben in einem Ritual einen kostbaren Schatz auf die Erde gelegt: alle verlorengegangenen Golfbälle, die sie seit ihrer Ankunft aufgesammelt haben. Schon sechs Monate!
Mein mathematischer Gnadenzustand hat während des ganzen Aufenthalts in Princeton angedauert. Nachdem das Problem der Landau-Dämpfung gelöst war, habe ich mein anderes großes laufendes Programm mit meinen Mitarbeitern Ludovic und Alessio wieder aufgenommen, und auch da haben wir, obwohl alles gefährdet zu sein schien, alle Hindernisse überwinden können, und alles hat am Ende wie durch Zauberei funktioniert. Übrigens durch ein wahrhaftes Wunder, eine riesige Rechnung, bei der fünfzehn Terme miteinander kombiniert wurden, um ein vollkommenes Quadrat zu ergeben … ein Wunder, das genauso unverhofft wie unerwartet war, weil wir schließlich genau das Gegenteil von dem bewiesen haben, was wir beweisen wollten!
Bei der Landau-Dämpfung haben wir jedoch nicht alles völlig gelöst: Für die interessantesten elektrostatischen oder gravitationellen Wechselwirkungen haben wir gezeigt, dass es eine Dämpfung in einer gigantischen, aber nicht unendlichen Zeitspanne gibt. Und da wir hier in der Klemme stecken, steckt die Regularität ebenfalls in der Klemme, es gelingt uns nicht, den analytischen Rahmen zu verlassen. Am Ende meiner Vorträge kehrt sehr oft die eine oder andere der folgenden Fragen wieder: Gibt es im Falle der Coulomb’schen oder Newton’schen Wechselwirkung ebenfalls eine Dämpfung in unendlicher Zeit? Kann man auf die Annahme der Analytizität verzichten? Jedes Mal antworte ich, dass ich in Abwesenheit meines Rechtsanwalts nichts sagen werde, dass ich nicht ehrlich weiß, ob es sich um etwas Tiefgründiges handelt oder ob wir einfach nicht clever genug waren.
Oh, hier kommt eine Junge Mathematikerin, die wie ich alleine ziellos herumwandert. Sie möchte mich gerne auf meinem weiteren Spaziergang begleiten. Sie hat meinem Vortrag über den optimalen Transport zugehört, das ist ein guter Einstieg in die Materie, in der lauen Princetoner Nacht werden wir zu zweit über Mathematik sprechen.
Der Spaziergang geht zu Ende, ich muss zum Institut zurückkehren. Mein Büro ist fast leer, aber es bleibt der Stapel von Entwürfen, der Riesenstapel, von Blättern, die ich Tag für Tag vollgeschrieben habe mit all den abgebrochenen und gelungenen Versuchen, allen Zwischenversionen, die ich sorgfältig aufgeschrieben, zwanghaft ausgedruckt und wutentbrannt korrigiert habe.
Ich hätte ihn gerne mitgenommen, aber im Flugzeug wäre das zu sperrig, wir sind ohnehin schon schwer beladen! Also muss ich alles wegwerfen …
Als sie sieht, wie ich diese so überwältigenden Entwürfe betrachte, versteht die Junge Mathematikerin sofort das kleine Drama, das darin besteht, diesen ganzen mit Gefühlen befrachteten Stapel wegzuwerfen. Sie hilft mir dabei, das ganze in den Papierkorb zu stopfen.
Oder vielmehr um den Papierkorb herumzustapeln – es gäbe genug, um mindestens vier Papierkörbe zu füllen!
Das war’s, mein Aufenthalt in Princeton ist wirklich beendet.
*
Ich habe über das Prinzip der Treffen Junger Mathematikerinnen lange ratlos nachgedacht … bis ich im Jahr 2009 selbst als Redner bei der Veranstaltung des Programms »Frauen in der Mathematik«, die jedes Jahr am Institute for Advanced Study in Princeton durchgeführt wird, mitgewirkt habe. Die dynamische und enthusiastische Atmosphäre, die dieses Treffen umgab, hat in mir eine unvergängliche Erinnerung hinterlassen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie Debatten und Gespräche des »neunten Forums der Jungen Mathematikerinnen am Institut Henri Poincaré« in einem ebenso entspannten und lernfreudigen Klima führen. Willkommen im »Haus der Mathematikerinnen«!
(Begrüßungsworte des Direktors auf dem Forum der Jungen Mathematikerinnen beim Empfang im Institut Poincaré am 6. November 2009.)
Kapitel 33
Lyon, 28. Juni 2009
Wie sonderbar, nach so langer Zeit wieder zu Hause zu sein.
Man ist nie wirklich heimgekehrt, bevor man nicht wieder auf dem Markt war. Man trifft seine Händler wieder, man sucht sein Brot und seinen Käse aus, man staunt darüber, dass alle französisch sprechen. Ich hatte Tränen in den Augen, als ich ein Glas Rohmilch trank, das erste seit sechs Monaten. Das weiche Ciabatta und das knusprige Baguette brauchen keinen Kommentar.
Ich bin zwar in mein Element zurückgekehrt, aber nichts ist wie zuvor. Gewiss, die Handwerker haben während
Weitere Kostenlose Bücher