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Das lebendige Theorem (German Edition)

Das lebendige Theorem (German Edition)

Titel: Das lebendige Theorem (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cédric Villani
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Rückkehr nach Frankreich das kleine Wildschwein besuchen und mit ihm im Wald spazieren gehen werde.
    Es ist Abend, ich öffne meine E-Mails. Mein Herz hüpft: Eine Nachricht von Acta Mathematica , eine mathematische Fachzeitschrift, die von vielen als die angesehenste von allen betrachtet wird. Dort haben Clément und ich unser Monstrum von 180 Seiten zur Veröffentlichung eingereicht. Ganz sicher schreibt mir die Zeitschrift deswegen.
    Aber … wir haben es vor weniger als vier Monaten eingereicht! Angesichts des Umfangs des Manuskripts ist das viel zu kurz, als dass die Gutachter ihre Einschätzung abgegeben haben und die Herausgeber eine positive Entscheidung fällen könnten. Es gibt nur eine einzige Erklärung: Die Zeitschrift schreibt, um zu verkünden, dass der Artikel abgelehnt wurde.
    Ich öffne die Nachricht, lese diagonal, untersuche fieberhaft die Gutachten der Experten. Ich kneife die Lippen zusammen und lese sie noch einmal. Sechs Gutachten, die insgesamt sehr positiv und alles sind, aber … ja, es ist immer das Gleiche, die Analytizität bereitet ihnen Sorgen und der Grenzfall für große Zeiten. Immer dieselben beiden Fragen, auf die ich schon Dutzende Male in meinen vergangenen Vorträgen antworten musste und die jetzt dazu führen, dass das Manuskript abgelehnt wurde! Der Herausgeber ist nicht davon überzeugt, dass die Ergebnisse endgültig sind, und der Aufsatz ist so lang, dass er unnachgiebiger als gewöhnlich sein müsste.
    Was für eine Ungerechtigkeit! Trotz aller Innovationen, die wir in diesen Aufsatz hineingelegt haben, die vollständige Erschließung des Themas? Wir haben so viele technische Hindernisse überwunden, so viele schlaflose Nächte verbracht … und für sie ist das immer noch nicht gut genug?? Das kränkt mich!
    Sieh an … eine andere Mail teilt mir mit, dass ich gerade den Fermat-Preis erhalten habe, der nach dem französischen Mathematiker Pierre de Fermat benannt ist, dem Fürsten der Amateure, der im 17. Jahrhundert ganz Europa durch seine mathematischen Rätsel in Aufruhr versetzt hat. Er hat die Zahlentheorie revolutioniert, die Variations- und die Wahrscheinlichkeitsrechnung; heute wird der Fermat-Preis alle zwei Jahre an einen oder zwei Forscher unter 45 Jahren verliehen, die auf einem dieser Gebiete wichtige Beiträge geleistet haben.
    Diese Nachricht über den Preis ist Balsam für mein Herz, genügt aber trotzdem nicht, um die Frustration darüber auszugleichen, dass mein Aufsatz abgelehnt wurde. Um mich zu trösten, bräuchte ich mindestens eine feste Umarmung.
    *
    1882 überzeugt der schwedische Mathematiker Gösta Mittag-Leffler seine nordischen Kollegen davon, eine skandinavische Zeitschrift für Mathematik zu gründen, die der Forschung auf höchstem Niveau gewidmet sein soll. Es werden die Acta Mathematica sein, deren Chefredakteur Mittag-Leffler wird.
    Da er regelmäßig mit den besten Mathematikern der Welt korrespondiert und mit einem sehr sicheren Geschmack und einer guten Portion Wagemut begabt ist, gelingt es Mittag-Leffler schnell, die besten mathematischen Aufsätze der Zeit anzuziehen. In seinem Autorenstall ist sein Lieblingsfohlen sicherlich der geniale und unberechenbare Henri Poincaré, bei dem sich Mittag-Leffler nicht scheut, lange, revolutionäre Aufsätze zu veröffentlichen.
    Die berühmteste Episode in der Existenz der Zeitschrift fällt mit einer der berühmtesten Episoden der Laufbahn Poincarés zusammen. Auf Anraten von Mittag-Leffler hatte König Oskar II. von Schweden einen großen Mathematikwettbewerb über ein aus einer kurzen Liste auszuwählendes Thema ausgeschrieben. Poincaré nahm die Herausforderung an und entschied sich dafür, das Thema der Stabilität des Sonnensystems zu bearbeiten, ein Problem, das schon seit Newton offen war! Auch wenn Newton die Gleichungen der Planeten des Sonnensystems aufgeschrieben hat (die Planeten werden von der Sonne angezogen und ziehen sich gegenseitig an), war er doch nicht in der Lage, zu zeigen, dass diese Gleichungen die Stabilität des Sonnensystems nach sich ziehen, oder herauszufinden, ob sie im Gegenteil nicht eine sich abzeichnende Katastrophe enthalten – die Kollision zweier Planeten, wer weiß? In der mathematischen Physik kennt dieses Problem jedermann.
    Newton dachte, dass das System wesentlich instabil sei und dass die Stabilität, die wir beobachten, auf eine hilfreiche göttliche Hand zurückgeht. Aber später haben Laplace und Lagrange und dann Gauss gezeigt, dass Newtons

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