Das lebendige Theorem (German Edition)
dich warten
Am Fuße des Turms
Unterdessen jagt Kain immer noch Abel
Aber ich habe mit meinen Händen
den Turm von Babel gebaut
La tour de Babel (Auszug), Guy Béart
Kapitel 32
Princeton, 26. Juni 2009
Heute ist mein letzter Tag in Princeton. In den letzten Wochen hat es so viel geregnet, dass man meinen könnte, es sei ein Witz. Aber heute Abend hat sich der Himmel aufgeheitert, und ich kann noch einmal spazieren gehen. Die Glühwürmchen verwandeln die großen Bäume in romantische Weihnachtstannen, die mit unzähligen blinkenden Kerzen verziert sind. Riesenpilze, ein kleiner verstohlener Hase, der Umriss eines Fuchses, der sich flüchtig in der Nacht abzeichnet, umherwandernde Hirsche, bei deren Röhren man zusammenzuckt.
In der letzten Zeit hat sich an der Front der Landau-Dämpfung einiges getan! Endlich haben wir den Beweis einwandfrei hinbekommen, wir haben alles noch mal gelesen. Was für ein Gefühl, als wir unseren Aufsatz online ins Internet gestellt haben! Der Nullmodus war am Ende doch kontrollierbar, und Clément meinte, dass man völlig auf meinen Trick verzichten könnte, den ich bei meiner Rückkehr aus dem Museum für Naturgeschichte eingeführt hatte, nämlich die doppelte zeitliche Verschiebung. Wir hatten jedoch nicht den Mut, alles noch einmal von vorne zu beginnen, und schließlich haben wir uns gesagt, dass das für andere Probleme auch nützlich sein könnte, also haben wir es dort belassen, wo es nicht stört … Es ist immer möglich, die Sache später noch zu vereinfachen, wenn es nötig sein sollte.
Ich habe unsere Arbeit vor zahlreichen Zuhörern vorgetragen; jedes Mal konnte ich die Ergebnisse und die Präsentation verbessern, im Moment hat das Ganze einen guten Schliff und ist fundiert. Es kann zwar immer sein, dass es irgendwo noch einen Fehler gibt, aber jetzt fügt sich alles so gut ineinander, dass ich zuversichtlich bin: Wenn wir eine Lücke entdecken, wird sie wohl nicht zu gravierend sein, wir werden sie schließen können.
Im Labor für Plasmaphysik in Princeton habe ich zwei Stunden vor einer Zuhörerschaft von Physikern vorgetragen, und danach hatte ich Anspruch auf eine wunderbare Besichtigung ihrer Einrichtungen und ihrer Experimentieranlagen, in diesem Institut, wo man die Rätsel der Plasmen zu entziffern und – wer weiß? – die Kernfusion zu bändigen versucht.
In Minneapolis hat mein Vortrag Wladimir Šverák sehr beeindruckt. Ich habe den größten Respekt vor diesem Mann, der den geheimnisvollen Begriff der Quasikonvexität besser als irgendjemand sonst verstanden hat und der jetzt einer der besten Experten für die Regularität bei Navier–Stokes ist; seine warmen Worte haben mich mit Zuversicht erfüllt.
Und dann habe ich in Minneapolis auch eine Eroberung gemacht: Die ganz junge, ganz blonde und ganz schüchterne Tochter meines Kollegen Marcus Keel wollte gerne beim Festessen der Tagung mit mir spielen, was bis zu Purzelbäumen ging, wobei sie schallend lachte. Marcus hat seinen Augen nicht getraut, dass seine Tochter, die nie mit Unbekannten spricht, eine solche Verbrüderung mit einem Ausländer akzeptiert haben sollte.
In Rutgers habe ich meine Ergebnisse in einem Kolloquium für statistische Physik des unermüdlichen Joel erneut vorgestellt. Aber dieses Mal war es ganz anders als mein vorheriger Vortrag, es war fundiert!
In Princeton habe ich einen Vortrag in einem Saal fast ausschließlich vor Mädchen im Rahmen des Programms »Frauen in der Mathematik« gehalten. Diese Jungen Mathematikerinnen kommen in großer Zahl in der Hoffnung, den Bann zu brechen, der aus der Mathematik eine ganz überwiegend männliche Disziplin macht – zwar weniger als die Informatik oder das Elektroingenieurswesen, aber immerhin. Vielleicht sind unter ihnen die Nachfolgerinnen der großen Mathematikerinnen, die Generationen zum Träumen brachten, die Sofia Kowalewskajas, Emmy Noethers, Olga Oleiniks oder Olga Ladyschenskajas. Die jungen Frauen, die den Campus bevölkern, bringen einen frischen Wind mit, und man begegnet noch heute Abend einigen von ihnen, wenn sie in kleinen Gruppen an der frischen Luft spazieren gehen.
Gestern hat sich unsere ganze Familie vom Golfplatz verabschiedet. Wie ich es geliebt habe, dieses Gelände zu durchqueren, wenn ich von irgendeiner Vortragsveranstaltung zurückkehrte, auf dem Weg, der von der kleinen Eisenbahnhaltestelle zum Institut führt, allein in der Nacht, unter dem Mondschein, der die Dünen in geisterhafte Wellen
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