Das lebendige Theorem (German Edition)
unserer Abwesenheit gearbeitet, und man erkennt die Wohnung kaum wieder … Aber das spielt keine Rolle; viel wichtiger ist die Verwandlung, die sich in meinem Innern vollzogen hat. Die Arbeit, die ich in Princeton geleistet habe, hat mich verwandelt wie einen Bergsteiger, der wieder auf der Erde zurück ist und dessen Kopf noch von den Höhen erfüllt ist, die er erkundet hat. Der Zufall hat meine wissenschaftliche Laufbahn an einem Punkt umgelenkt, den ich mir vor sechs Monaten noch nicht vorstellen konnte.
In den 1950er Jahren vollzog sich eine wissenschaftliche Revolution, als man verstanden hat, dass es für die Erforschung eines Systems mit zu vielen Möglichkeiten oft besser ist, wenn man sich vom Zufall leiten lässt, anstatt es methodisch einzugrenzen, oder auf völlig zufällige Weise aufeinanderfolgende Proben auswählt. Das war der Metropolis-Hastings-Algorithmus, heute ist es das ganze Gebiet der MCMC, der Monte Carlo Markov Ketten, deren unbegreifliche Leistungsfähigkeit in der Physik, Chemie und Biologie immer noch nicht erklärt wurde. Es handelt sich nicht um eine deterministische Erforschung und auch nicht um eine völlig zufällige Erforschung, sondern um eine Erforschung durch zufällige Schritte.
Aber im Grunde ist das nichts Neues. Im Leben ist es ähnlich: Wenn man sich ein wenig zufällig von einer Situation zur anderen bewegt, erforscht man sehr viel mehr Möglichkeiten, so wie ein Forscher, der je nachdem, was ihm begegnet, von einem wissenschaftlichen Kontinent zu einem anderen wechselt.
Alles ist wieder an der richtigen Stelle, alles wird weitergehen. Meine Sachen sind schon in Kartons verpackt, bald werden die Möbelpacker alles mitnehmen, was mir vertraut ist. Den Futon, den meine Mutter mit Stahlbeton verglich, nachdem sie ihn ausprobiert hatte. Die Musikanlage, die mit ihren fünfzehn Jahren ihre Bezeichnung »Hi-Fi« ganz zu Recht verdient. Hunderte von CDs, die manchmal mein ganzes Gehalt eines Studenten an der ENS auffraßen, die gesammelten Kassetten und die gebrauchten Schallplatten. Und der große Doppelschreibtisch aus Massivholz, die Regale im Kolonialstil, in denen sich unzählige Bücher stapeln, der schwere, aus einem Stück gezimmerte und aus London mitgebrachte Holzsessel, die Skulpturen, die wir im Département Drôme gekauft haben, die Gemälde meines Großvaters … All das wird mich bei meinem neuen Abenteuer begleiten: In drei Tagen trete ich mein Amt des Direktors am Institut Henri Poincaré in Paris an. Mein Vorgänger räumt sein Büro am 30. Juni, ich ziehe am 1. Juli dort ein. Ich werde die Arbeit vor Ort erlernen müssen. Ein neuer Lebensabschnitt wird für mich beginnen.
Ein neuer Schritt meiner persönlichen MCMC.
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Nachdem es in den 70er und 80er Jahren lange leer stand, entsteht das IHP, »Haus der Mathematik«, offiziell neu im Jahr 1990. Im Rahmen des Vierjahresvertrags mit der Universität Pierre und Marie Curie, die mit der Verwaltung des neuen IHP beauftragt ist, und mit Unterstützung des CNRS investierte der Staat massiv in seine Renovierung.
Die Einrichtung der neuen Struktur findet unter der Leitung des Mathematikers Pierre Grisvard statt, der 1994, einige Monate vor der offiziellen Einweihung durch den Minister für Hochschulwesen und Forschung, vorzeitig stirbt. Joseph Oesterlé (Universität Pierre und Marie Curie) wird sein Nachfolger, gefolgt von Michel Broué (Universität Denis-Diderot) im Jahr 1999 und von Cédric Villani (École Normale Supérieure in Lyon) im Jahr 2009.
(Auszug aus einer zusammenfassenden Beschreibung des Institut Henri Poincaré.)
Kapitel 34
Prag, 4. August 2009
Prag, die Stadt des mythischen Europas, wenn es das überhaupt gibt. Die Sage des Golem, das Lied von Messia, Kafkas Biographie, gezeichnet von Crumb und Mairowitz, all das und noch viel mehr geht mir durch den Kopf, als ich die Straßen durchstreife, wo es tausend Jahre alte Uhren neben Bars mit leichtbekleideten Tänzerinnen gibt und wo die Studenten mit Teufelshörnern und Umhängen von Superhelden gewandet in die Disco zum Tanzen gehen.
Vor einigen Wochen, auf dem Weg von Oberwolfach, machten die Passanten große Augen wegen meines Aufzugs, aber in Prag könnte ich fast als Wirtschaftsprüfer durchgehen.
Gestern fand die Eröffnungsfeier des Internationalen Kongresses für Mathematische Physik statt, der von der Vereinigung desselben Namens veranstaltet wird. Mit großem Pomp erhielten wir zu viert den Henri-Poincaré-Preis, der zweifellos die
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