Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das leere Grab im Moor

Das leere Grab im Moor

Titel: Das leere Grab im Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
Vom Netzwerk:
30 oder 35 sein und hatte rotes Haar, das ihr ungepflegt wie
bei einem Hippie auf die Schultern hing. Das Rot war auch nicht echt, denn am
Mittelscheitel wuchs strohiges Blond nach. Die letzte Färbung lag offenbar ein
paar Wochen zurück. Die Frau hatte sich Wimpern angeklebt. Als Schattenspender
konnten sie’s mit einer Schildmütze aufnehmen; und so lang werden echte Wimpern
nun wirklich nicht.
    Könnte mein Vorteil sein,
dachte Tarzan. Vielleicht sieht sie mich mit den Dingern nicht so deutlich.
    Bei ihrer Kriegsbemalung —
sprich Make up — hatte die Frau mit Farbe nicht gespart. Und an den Ohren
klimperten fingerlange Gehänge wie bei einer Zigeunerin.
    „Was willst du denn von Funke?“
fragte sie gähnend. „Und warum kommst du durch die Hintertür? Vorn war doch
offen.“
    „Ich habe vorn geklopft“, sagte
er. „Da niemand kam, habe ich’s dann an der Hintertür probiert.“
    „Hättest klingeln sollen. Also,
was willst du von Fritz — von Herrn Funke, meine ich.“
    „Es... äh... geht um meinen
Großvater. Meier heißt er. Er hat gehört, daß Herr Funke Kräuter sammelt.
Heilkräuter für Tees und so. Er schickt mich, um mal zu fragen, ob er was
bekommen könnte.“
    „Wofür?“
    „Seine Galle.“ Tarzan griff
sich an die linke Brustseite — etwa dorthin, wo das Herz liegt. „Seine Galle
macht ihm zu schaffen. Und die Tees aus der Apotheke — also, mein Großvater
läßt fragen, ob er die Tees vielleicht billiger kriegen könnte.“
    „Weiß ich nicht. Mußt da mit
Fritz reden. Aber — eine Tüte kannst du haben. Komm’ mal mit in die Küche. Hast
du Geld dabei?“
    „Zwei Mark und fünfzig.“
    „Dafür kann ich dir nicht viel
geben. Es ist nämlich ‘ne ziemliche Arbeit, die Kräuter zu sammeln und zu
trocknen.“
    Die Küche war der Raum hinter
ihr. Auf der Anrichte stapelte sich schmutziges Geschirr. Unter dem Fenster
stand eine breite Couch. Eine buntkarierte Decke war zerwühlt. Offenbar hatte
die Frau hier ihr Nickerchen gemacht.
    Die Fächer eines Regals
enthielten gefüllte Papiertüten — mindestens 100. Sie hatten unterschiedliche
Größen und waren mit Kugelschreiber beschriftet. Die Frau griff eine der
kleinsten Tüten heraus. FUNKES LEBER- UND GALLENTEE stand darauf — in einer
Schrift, für die jeder Schüler der 9 b sein Heft um die Ohren gekriegt hätte.
    „Macht drei Mark.“
    „Ich habe aber nur
zweifünfzig.“
    „Dann bringst du den Rest das
nächste Mal.“
    Tarzan bezahlte, erhielt die
Tüte und wunderte sich, wie wenig sie wog.
    Sein Glück war, daß er in
diesem Moment durchs Fenster sah.
    Die Küche lag zur Straße. Einen
Teil der Bricheisenstraße konnte man von hier überblicken.
    Eisiger Schreck durchfuhr
Tarzan. Funke radelte auf der Straße heran, war schon in Höhe des Hauses und
verschwand in dieser Sekunde aus dem Blickfeld.
    „Da kommt er ja“, sagte die
Frau. Auch sie hatte ihn gesehen. „Jetzt kannst du mit ihm reden.“
    „Ja. Sehr schön. Das heißt...“
Tarzans Stimme war heiser. „Dürfte ich nur mal schnell nach meinem Hund sehen?
Ich habe ihn im Garten gelassen. Wen er nicht kennt, dem zerreißt er die Hosen.
Bin gleich wieder da.“
    Mit seiner Tüte sauste er durch
den Flur zur Hintertür. Auf Sekunden kam es jetzt an — vielleicht auf Bruchteile.
    „Weshalb denn so eilig?“ rief
die Frau. „Fritz wird mit jedem Köter fertig.“
    Tarzan stieß die Hintertür auf
und sah in den Garten. Funke war noch nicht da, würde aber jeden Moment
auftauchen, denn sicherlich stellte er sein Rad auf der Rückseite ab.
    Tarzan flitzte hinaus, warf die
Tür zu, entschied sich blitzschnell, war mit drei Sprüngen hinter einem dichten
Johannisbeer-Strauch und warf sich zu Boden. In kniehohes Gras gestreckt, lugte
er durch die Zweige.

    Es war keine Sekunde zu früh
gewesen, und er hätte auch keine Zeit mehr gehabt, ums Haus herumzulaufen.
    Funke bog um die Ecke. Er schob
seinen Drahtesel, stellte ihn an die Wand, räusperte sich, spuckte aus, rieb
sich mit der linken Hand in seinem Ledergesicht und trat durch die Hintertür.
Gepäck hatte er nicht bei sich — weder Rucksack noch Tasche.
    Tarzan überlegte. Jetzt
abhauen? Oder — falls Funke mißtrauisch wurde und nach ihm suchte —
liegenbleiben und abwarten? Er entschied sich fürs Bleiben.
    Keine Minute verging, und Funke
kam aus dem Haus. Er rannte fast, hastete zur Ecke, blieb stehen, guckte umher,
ging dann zum Tor. Tarzan konnte ihn nicht mehr sehen.
    Der wundert sich, dachte

Weitere Kostenlose Bücher