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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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Besessener durch die Welt gereist. Europa zuerst, dann Amerika, nach den Enttäuschungen von 1848 suchte der als Erster von Geografie als Politik denkende Ethnologe in der Neuen Welt eine Bestätigung für seinen Weg. Den Weg einer Geografie, die sich selbst nicht versteht als Annäherung an eindeutig beschreibbare und begrenzbare Räume, an Landschaften und ihre Einrichtung, sondern als Sammeln von Wissen über die Beziehung von Mensch und Welt.
    Wenn Johann Georg Kohl auf etwas stieß, zu dem ihm keine seiner Auskunftspersonen etwas sagen konnte, dann begab er sich in die Sprache. Er war ja nicht nur Reisender und literarisch formulierender Journalist, nicht nur Geograf und Kartograf von Rang, nicht nur Ethnologe und Soziologe, sondern dazu noch Germanist und Sprachforscher, auch hier Autodidakt wie in allen Gebieten, in denen er sich mit großer Souveränität bewegte. Wie und warum sich etwas verändert hat, ist erkennbar daran, wie sich die Sprache verändert. Davon ging Kohl aus. Hätte er sich beschäftigt mit Severinus, wäre er nie auf die Idee gekommen, dessen im Dunkel der Zeiten liegende Vorgeschichte in Afrika anzunehmen, wie es Dörfler tat. Und auch nicht am Hof des Hunnenkönigs Attila, wie es Giese tut.
    Kohl hätte die Sprache in Augenschein genommen, in der Eugipp den Heiligen sprechen lässt. Und wäre zu jenem Schluss gekommen, den Lotter zieht und den ich bevorzuge: Severinus war Politiker, vertraut mit und sicher in allen diplomatischen Angelegenheiten, auf allen bürokratischen und administrativen Ebenen des Römischen Reiches mit einer großen Sicherheit beheimatet.
    Der Vollständigkeit halber muss angemerkt werden, dass es ausgerechnet die Sprache war, die Kohl sein erstes und größtes Scheitern beschert hatte. Des Deutschen Mundes Laute , sein allererstes Buch, auf eigene Kosten gedruckt im Jahr 1834, fand keinen einzigen Käufer. Was ein Glück war, nachträglich gesehen, denn wegen dieses Debakels wandte er sich ab von den Sprachstudien und begann zu reisen. Er schimpfte ein wenig auf die pedantischen Gelehrten. Doch dann sagte er sich trotzig: Ich lobe mir das Leben, ich lobe mir das Reisen, dies lässt uns die wahre Beschaffenheit und das Wesen der Natur und den Charakter und Unterschied der Dinge erkennen. Und fuhr los.
    Ich legte die zerfledderten Bücher von Dörfler und Giese beiseite und ging zu der Landkarte an der Wand. In jedem Pensions- und Hotelzimmer hängte ich sie auf, Freytag&Berndt RF 1, Donau-Radweg Passau–Wien–Bratislava, Maßstab 1 zu 125.000. Ich malte ein Kreuz bei Zeiselmauer, mit einem Disc-Marker von Schneider, Farbe Dunkelblau, und schrieb das heutige Datum dazu. Bei Zwentendorf malte ich ein Fragezeichen, dann das Datum. Disc-Marker sind perfekt für die dauerhafte Beschriftung von CD s und DVD s. Und von Kartenmaterial. Perfekt für dauerhafte Beschriftung, schrieb ich in den Notizblock.
    Und notierte weiter: Hat Eugipp dieses Land dauerhaft beschriftet, indem er ihm Severinus einschrieb? Nein. Keine Beschriftung ist dauerhaft. Irgendwann, in zwei Milliarden Jahren, oder in drei, wird die Sonne beginnen abzukühlen und sich dabei aufzublähen, wird nach Jahrmillionen den Merkur verschlingen, dann die Venus, und schließlich nach weiteren Jahrmillionen wird ihr immer noch unvorstellbar heißer äußerer Rand die Erde erreichen. Und alles, was von Dauer ist, und damit naturgemäß auch jede Art von vermeintlich dauerhafter Beschriftung, wird verdampfen in einem Augenblick. Und die Myriaden von Strings, aus denen alles besteht, von dem wir glauben, es seien wir und unsere Welt, werden einen Moment lang besonders aufgeregt flirren und dann aufgehen in dieser Neuanordnung von Materie.
    Die Idee, etwas zu schreiben, das meine Auftraggeber einen Aufsatz nennen, über das Leben eines Heiligen, beziehungsweise über die Erzählung des Eugippius von diesem Leben, kam mir an jenem Morgen absurd vor. Ich legte in meinem Laptop einen neuen Ordner an, nannte ihn Parallelbericht, löschte den Titel wieder, ersetzte ihn durch Gegenbericht. Redete mir ein, dass es eine Art Steinbruch werden sollte, in dem ich ungeordnet Textsplitter ablagern konnte, meine eigenen Gedanken und Reflexionen und Spötteleien und Bezweiflungen zu den Wundern des Heiligen Mannes und den Mechanismen von Aufstieg und Fall von Imperien, die sich offensichtlich in zweitausend Jahren nicht geändert haben. Dies sollte mir dienen als Material für den offiziellen Beitrag zum Ausstellungskatalog. Die

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