Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen

Titel: Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
Vom Netzwerk:
konnte, vermochte nicht, aus mir auch nur einen Jahrmarktkartenkünstler zu machen. Zu guter Letzt sagte er zu mir: ›Mein Sohn, deine Unfähigkeit ist so ungeheuer, deine Talentlosigkeit so profund, dass dir größere Mächte innewohnen müssen, als ich sie je gekannt habe. Leider scheinen diese Kräfte im Augenblick verkehrt zu wirken, und selbst ich weiß keinen Weg, das in Ordnung zu bringen. Du musst dazu ausersehen sein, deinen eigenen Weg zu finden und dir deiner Macht erst zu einer vorbestimmten Zeit bewusst zu werden. Es mag sehr lange dauern, bis du das erlebst, und deshalb verleihe ich dir die Gabe, vom heutigen Tage an nicht zu altern. Du wirst die Welt durchwandern, unwirksam in alle Ewigkeit, bis du endlich zu dir selber findest und weißt, was du bist. Danke mir nicht, ich erzittere vor deinem Geschick!‹«
    Das weiße Mädchen sah ihn aus den klaren, amarantenen Augen des Einhorns an, die in dem neuen Gesicht sanft und erschreckend wirkten, doch es sagte nichts. Molly Grue jedoch fragte: »Und wenn du deine Magie einmal gefunden hast, was dann?«
    »Dann ist der Bann gebrochen, und ich werde zu sterben beginnen, so, wie ich es bei meiner Geburt getan habe. Auch die größten Magier werden alt, wie alle anderen Menschen, und sterben.« Er schwankte und nickte, gab sich einen Ruck, um wieder wachzuwerden – ein großer, hagerer, abgerissener Mann, der nach Schweiß und Schnaps roch. »Ich habe dir gesagt, dass ich älter bin, als ich aussehe«, fuhr er fort. »Ich ward als Sterblicher geboren, bin eine unsinnig lange Zeit unsterblich gewesen und werde eines Tages wieder sterblich sein. Deshalb weiß ich etwas, das ein Einhorn nicht wissen kann: Alles Sterbliche ist schön! Schöner als ein Einhorn, das ewig lebt und das schönste Wesen auf der ganzen Welt ist. Verstehst du mich?«
    »Nein«, sagte das Mädchen.
    Der Zauberer lächelte erschöpft. »Du wirst es schon noch verstehen. Du bist jetzt zusammen mit uns in dieser Geschichte und musst ihr folgen, ob du willst oder nicht. Wenn du deine Gefährten finden willst, wenn du wieder ein Einhorn werden möchtest, dann musst du dem Märchen zu König Haggards Schloss folgen, musst ihm folgen, wohin auch immer es dich führt. Ohne die Prinzessin kann die Geschichte nicht enden.«
    Das weiße Mädchen erwiderte: »Ich werde nicht gehen.« Es trat zur Seite, sein Körper war wachsam und das kalte Haar strömte herab. Es sagte: »Ich bin keine Prinzessin, bin keine Sterbliche, und ich werde nicht gehen. Seit ich meinen Wald verlassen habe, ist mir nur Böses widerfahren, und nichts als Böses kann den anderen Einhörnern in diesem Lande widerfahren sein. Gib mir meine alte Gestalt zurück, dann werde ich zu meinen Bäumen zurückkehren, zu meinem Teich, in meine Heimat. Deine Geschichte hat über mich keine Gewalt, denn ich bin ein Einhorn. Ich bin das letzte Einhorn.«
    Hatte es das nicht schon einmal gesagt, vor langer Zeit, in der blaugrünen Stille seines Waldes? Schmendrick lächelte immer noch, doch Molly Grue sagte: »Gib ihm seine alte Gestalt zurück. Du hast gesagt, du könntest es. Lass es nach Hause gehen!«
    »Das steht nicht in meiner Macht«, erwiderte er. »Ich habe dir gesagt, dass der Zauber nicht unter meinem Befehl steht, noch nicht. Deshalb muss auch ich weiterziehen zum Schloss, ins Glück oder Unglück, das mich dort erwartet. Versuchte ich jetzt, die Verwandlung rückgängig zu machen, könnte ich es wirklich in ein Nashorn verwandeln. Das wäre noch das Beste, was aber das Schlimmste anbetrifft…« Er schauderte und verstummte.
    Das Mädchen schaute zu dem Schloss hinüber, das über das Tal emporragte. Hinter keinem der fernen Fenster, auf keinem der torkelnden Türme nahm sie eine Bewegung wahr. Auch vom Roten Stier war nichts zu sehen, doch spürte es dessen Anwesenheit, spürte, dass er an den Grundfesten des Schlosses lag und auf die Nacht lauerte. Das Mädchen berührte zum zweiten Mal die Stelle auf seiner Stirn, wo sich das Horn befunden hatte.
    Als es sich wieder umwandte, waren der Mann und die Frau im Sitzen eingeschlafen: ihre Köpfe auf Luft gebettet, ihre Münder offenhängend. Es stand bei ihnen und sah ihrem Atmen zu, hielt mit der einen Hand den schwarzen Mantel um den Hals zusammen. Sehr schwach trieb, zum ersten Mal, der Geruch des Meeres zu ihm herüber.

9

    ie Wächter erspähten sie kurz vor Sonnenuntergang, als das Meer bewegungslos und blendend dalag. Sie patrouillierten auf dem zweithöchsten der vielen

Weitere Kostenlose Bücher