Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen
sterben!« Doch auf seinem Antlitz war nichts von der Angst zu sehen, die seine Stimme verzerrte, die sich an seinen Händen und Füßen zeigte und in dem weißen Haar, das über den neuen Körper fiel. Sein Antlitz blieb ruhig und ungetrübt.
Molly beugte sich über es, so dicht, wie sie es sich nur traute, flehte das Mädchen an, sich kein Leid anzutun. Doch Schmendrick sagte: »Sei still!«, und die beiden Worte knackten wie dürre Zweige. »Der Zauber wusste, was er tat. Sei still und höre!«
»Warum hast du den Stier nicht mich töten lassen?«, stöhnte das weiße Mädchen. »Warum hast du mich nicht der Harpyie überlassen? Das wäre barmherziger gewesen, als mich in diesen Käfig zu sperren.« Der Zauberer zuckte zusammen, denn er erinnerte sich an Mollys Beschuldigung; doch dann sagte er mit einer verzweifelten Ruhe: »Zunächst einmal ist es eine sehr anziehende Gestalt; unter den Menschen wird es wohl kaum eine schönere geben!«
Das Mädchen sah an sich hinab, seitwärts auf die Schultern, die Arme entlang, an dem zerkratzten und wunden Körper hinunter. Es stand auf einem Fuß, um die Sohle des anderen zu beäugen, verdrehte die Augen, um die silbrigen Brauen zu sehen, schielte die Wangen hinab, um einen Schatten seiner Nase zu erhaschen, betrachtete die seegrünen Adern an den Innenseiten der Handgelenke, Adern so fröhlich wie junge Seeotter. Endlich wandte es sein Gesicht dem Zauberer zu, und wieder stockte ihm der Atem. ›Ich habe gezaubert‹, dachte er, doch dann bohrte sich Leid in seine Kehle, wie ein jäher Angelhaken.
»Gut«, sagte er. »Dir mag es gleichgültig sein, dass ich dich nicht in ein Nashorn verwandelt habe – Nashörner sind es im übrigen gewesen, die diese unsinnige Mythe verursacht haben. Doch in dieser Gestalt hast du wenigstens eine gewisse Aussicht, zu König Haggard zu gelangen und herauszufinden, was aus deinen Gefährten geworden ist. Als Einhorn wäre dir ihr Schicksal widerfahren – es sei denn, du könntest den Roten Stier besiegen, wenn du ihm ein zweites Mal gegenüberstehst.«
Das weiße Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich nicht. Das nächste Mal könnte ich nicht einmal so lange widerstehen.« Seine Stimme klang so weich, als wären ihre Knochen gebrochen. »Meine Gefährten sind dahin, und bald werde ich ihnen folgen – in welche Gestalt auch immer du mich sperrst. Doch hätte ich jede andere Form lieber zu meinem Gefängnis gewählt als diese. Ein Nashorn ist so hässlich wie ein Mensch, und es ist ebenfalls sterblich, aber wenigstens denkt es niemals, es sei schön.«
»Nein, das tut es nie«, stimmte der Zauberer zu. »Deshalb bleibt es auch immer und ewig ein Nashorn und wird nicht einmal an Haggards Hof willkommen sein. Doch ein junges Mädchen, eines, dem es nie und nimmer etwas ausmachte, ein Nashorn zu sein, solch ein Mädchen könnte – während der König und dessen Sohn sein Geheimnis zu ergründen versuchen – sein eigenes Rätsel lösen. Nashörner sind nicht wissbegierig, doch junge Mädchen sind es.«
Der Himmel war heiß und geronnen, die Sonne schon zu einem löwenfarbenen Fleck geschmolzen. Auf der Ebene von Hagsgate rührte sich nichts als der schale, schwere Wind. Das nackte Mädchen mit dem Blumenmal auf seiner Stirn sah schweigend den grünäugigen Mann an, und die Frau beobachtete sie beide. In dem fahlroten Morgenlicht sah König Haggards Schloss weder bedrohlich noch verhext aus, sondern nur schlecht angelegt, vernachlässigt und verkommen. Die zackigen Zinnen sahen nicht im geringsten wie die Hörner eines Stieres aus, eher wie die Zipfel einer Narrenkappe. ›Oder wie die Spitzen eines Dilemmas‹, dachte Schmendrick. ›Die haben auch immer mehr als nur zwei.‹
Das weiße Mädchen sagte: »Ich bin immer noch ich selbst. Dieser Körper stirbt. Ich spüre, wie er rings um mich herum zerfällt. Wie kann irgendetwas Sterbliches schön sein, wie kann es Wirklichkeit haben?« Molly Grue legte den Mantel des Zauberers wieder um die Schultern des Mädchens, nicht aus Schamgefühl oder Schicklichkeit, sondern aus einem merkwürdigen Erbarmen heraus, so als wolle sie es davor bewahren, seinen Körper sehen zu müssen.
»Ich werde dir eine Geschichte erzählen«, sagte Schmendrick. »Als Junge war ich Lehrling bei dem mächtigsten aller Magier, dem großen Nikos, den ich schon früher erwähnt habe. Doch selbst Nikos, der Katzen in Kühe, Schneeflocken in Schneeglöckchen und Einhörner in Menschen verwandeln
Weitere Kostenlose Bücher