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Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen

Titel: Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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gelassen. »Kein ausgewachsenes Mädchen sieht so aus, es sei denn, es ist wahnsinnig. Das wäre zwar lästig, der einzigen anderen Möglichkeit aber bei weitem vorzuziehen.«
    »Und die wäre?«, fragte der jüngere Mann nach einiger Zeit.
    »Die wäre, dass dieses Mädchen tatsächlich heute morgen geboren wurde. Wahnsinnig wäre mir lieber. Lass uns hinuntergehen.«
    Als der Mann und die beiden Frauen das Schloss erreichten, standen die zwei Schildwachen zu beiden Seiten des Tores, ihre stumpfen, verbeulten Hellebarden gekreuzt, ihre Pallasche von der Gürtelmitte hängend. Die Sonne war untergegangen, und je mehr das Meer verblasste, desto bedrohlicher wurden ihre grotesken Rüstungen. Die Wanderer zögerten, sahen einander an. Sie hatten keine Festung im Rücken, und ihre Augen waren nicht verborgen.
    »Eure Namen!«, tönte die ausgedörrte Stimme der älteren Wache.
    Der große Mann trat einen Schritt vor. »Ich bin Schmendrick der Zauberer«, sagte er. »Dies ist Molly Grue, meine Assistentin – und das ist die Lady Amalthea.« Er stolperte über den Namen des weißen Mädchens, so als ob er ihn noch nie zuvor ausgesprochen hätte. »Wir ersuchen Audienz bei König Haggard«, fuhr er fort. »Wir haben eine lange Reise auf uns genommen, um ihn zu sprechen.«
    Der ältere Posten wartete, dass der andere etwas sage, doch dieser hatte nur Augen für die Lady Amalthea. Ungeduldig fragte er: »Was ist euer Begehr?«
    »Das werde ich dem König selbst kundtun«, antwortete der Zauberer. »Was für eine königliche Angelegenheit wäre das wohl, die ich Türhütern und Lakaien anvertrauen könnte? Führt uns zum König!«
    »Was für eine königliche Angelegenheit könnte wohl ein fahrender Zauberer mit einer vorlauten Zunge mit König Haggard zu besprechen haben?«, fragte düster der Wächter. Doch dann machte er kehrt und schritt durchs Schlosstor, und die Besucher des Königs folgten ihm. Als Letzter kam der jüngere Wächter, dessen Schritte so behutsam wie die der Lady Amalthea geworden waren; unbewusst ahmte er jede ihrer Bewegungen nach. Vor dem Tor zögerte sie einen Augenblick und sah aufs Meer hinaus. Die Schildwache tat das Gleiche.
    Sein vorangehender Kamerad rief ihm ärgerlich zu, doch der junge Wächter befand sich in einem anderen Dienst, stand einem neuen Herrn Rede und Antwort für seine Versäumnisse. Er ging erst durchs Tor, als es der Lady Amalthea beliebt hatte, hindurchzugehen. Verträumt sang er vor sich hin:

    Was ist das nur, was mir geschieht?
    Was ist das nur, was mir geschieht?
    Ich weiß nicht, soll ich mich fürchten, soll ich mich freuen?
    Was ist das nur, was mir geschieht?

    Sie durchschritten den gepflasterten Schlosshof, bahnten sich zwischen aufgehängter Wäsche, die kalt ihre Gesichter streifte, einen Weg. Durch eine kleine Tür gelangten sie in eine Halle, die so groß war, dass in der Dämmerung weder Wände noch Decke erkennbar waren. Mächtige Steinsäulen sprangen die sich mühsam Vorwärtstastenden an, zogen sich wieder zurück, ohne auch nur für einen Augenblick deutlich zu werden. In dem riesigen Raum hallte sogar der Atem. Das Trippeln anderer, kleinerer Wesen klang genauso laut und deutlich wie die eigenen Schritte. Molly Grue hielt sich dicht an Schmendrick.
    Nach dieser großen Halle kamen sie durch eine weitere Tür zu einer engen Treppe. Je höher sie stiegen, desto enger und enger wand und krümmte sich diese Treppe, bis es schien, als drehe sich jeder Schritt um sich selbst. Es war stockdunkel. Der Turm schloss sich wie eine schweißige Faust um sie; das Dunkel glotzte sie an, betastete sie, roch nach Regen und Hunden.
    In der Tiefe erscholl ein dumpfes Grollen. Der Turm erzitterte wie ein auf Grund laufendes Schiff, antwortete mit einem ächzenden Wehklagen seiner Steine. Die drei Wanderer schrien auf, bewahrten auf der wankenden Wendeltreppe mühsam das Gleichgewicht, doch ihr Führer eilte wortlos weiter. Der jüngere Mann flüsterte der Lady Amalthea zu: »Hab keine Angst, das ist nur der Stier!« Das Grollen wiederholte sich nicht.
    Der Wächter an der Spitze blieb unvermittelt stehen, holte von einer unsichtbaren Stelle einen Schlüssel und stieß ihn, scheinbar willkürlich, in die glatte Wand. Ein Teil der Wand schwang nach innen, und die kleine Prozession marschierte in eine enge, niedrige Kammer. Die Kammer enthielt ein Fenster und einen Stuhl, der vor der gegenüberliegenden Wand stand. Es gab weder Möbel noch Teppiche, keine Vorhänge und keine

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