Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen
Wandbehänge. In dem Raum befanden sich fünf Menschen, ein großer Stuhl und das mehlige Licht des heraufziehenden Neumondes.
»König Haggards Thronsaal«, sagte der Wächter.
Der Zauberer packte ihn beim gepanzerten Ellenbogen, drehte ihn um, bis sie einander von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden. »Das ist eine Zelle, ein Grabgewölbe. Kein lebender König sitzt hier auf seinem Thron. Führ uns zu Haggard, wenn er noch am Leben ist!«
»Das musst du selber beurteilen«, erwiderte die scharrige Stimme des Wächters. Er band seinen Helm los und hob ihn von seinem grauen Haupt. »Ich bin König Haggard.«
Seine Augen hatten dieselbe Farbe wie die Hörner des Roten Stieres. Er war größer als Schmendrick, und obgleich sein Gesicht gefurcht und gerunzelt war, lag weder Freundlichkeit noch Milde darin. Es war der Kopf eines Hechtes: lange, gerade Kinnladen, harte Wangen, ein sehniger, kraftstrotzender Nacken. Er mochte siebzig Jahre alt sein oder achtzig oder noch älter.
Der andere Wächter trat hinzu, den Helm unterm Arm. Molly Grue schnappte nach Luft, als sie sein Gesicht sah: Es war das freundliche, zerzauste Gesicht des jungen Prinzen, der ein Journal gelesen hatte, während seine Prinzessin versuchte, ein Einhorn herbeizulocken. König Haggard sagte: »Das ist Lír.«
»Tag!«, sagte Lír. »Herzlich willkommen.« Sein Lächeln umschwänzelte ihre Füße wie ein verspielter junger Hund, doch seine Augen – ein tiefes, beschattetes Blau hinter struppigen Wimpern – ruhten gelassen auf den Augen der Lady Amalthea. Sie erwiderte diesen Blick, schweigend wie ein Edelstein, sah ihn jedoch so wenig, wie Menschen Einhörner sehen. Der Prinz jedoch fühlte eine sonderbare, glückliche Gewissheit, dass sie ihn von Kopf bis Fuß betrachtet hätte, bis in Winkel hinein, von deren Vorhandensein er bisher nichts geahnt und in denen jetzt ihr Blick klingend und singend hallte. Wunderbare Verheißungen erwachten irgendwo südwestlich seiner zwölften Rippe, und während er die Lady Amalthea widerspiegelte, begann er selbst zu leuchten.
»Was ist euer Begehr?«
Schmendrick räusperte und verbeugte sich vor dem blassäugigen Mann. »Wir möchten in deine Dienste treten. Weit und breit hat der berühmte Hof des Königs Haggard…«
»Ich brauche keine Diener.« Der König wandte sich ab, Gesicht und Körper erschlafft vor Gleichgültigkeit. Doch spürte Schmendrick, dass unter dieser steinfarbenen Haut und an den Wurzeln des grauen Haares Wissbegier lauerte. Vorsichtig sagte er: »Du hast doch sicherlich ein Gefolge, einen Hofstaat. Einfachheit ist der reichste Schmuck eines Königs, das gesteh ich dir gern zu, doch für einen König wie Haggard…«
»Mein Interesse an dir schwindet«, unterbrach ihn die scharrende Stimme, »und das ist sehr gefährlich. In einer Sekunde habe ich dich gänzlich vergessen und werde mich nie mehr erinnern können, was ich mit dir gemacht habe. Was ich vergesse, hört nicht nur auf zu existieren, das hat es nie gegeben!« Bei diesen Worten richtete er, genau wie sein Sohn, die Augen auf die Lady Amalthea.
»Mein Hof, wie du es zu nennen beliebst, besteht aus vier Soldaten. Ich käme gern ohne sie aus, wenn das ginge, denn sie kosten mehr, als sie wert sind, wie alles andere auch. Sie wechseln sich ab als Wächter und Köche, und aus der Ferne sehen sie aus wie eine Armee. Was für andere Bedienstete sollte ich brauchen?«
»Aber die höfischen Vergnügungen!«, rief der Zauberer, »Musik, Konversation, Damen und Springbrunnen, Jagden und Maskenfeste, die Hofbälle!«
»Sie bedeuten mir nichts«, sagte König Haggard. »Ich habe sie alle mitgemacht, und sie haben mich nicht glücklich gemacht. Ich dulde nichts in meiner Nähe, das mich nicht glücklich macht.«
Die Lady Amalthea ging lautlos an ihm vorüber zum Fenster und blickte hinaus auf das nächtliche Meer.
Schmendrick fand allmählich die Sprache wieder. »Ich verstehe dich vollkommen! Wie fad und flau, wie närrisch und nutzlos sind die Vergnügungen dieser Welt für dich! Du bist der Wonnen überdrüssig, bist übersättigt von Sensationen, gelangweilt von diesem abgeschmackten Schnickschnack. Ein wahrhaft königliches Leiden! Und deshalb wünscht sich niemand mehr die Dienste eines Zauberers als ein König, denn nur ein Zauberer sieht die Welt als etwas immerfort Fließendes, unendlich Veränderliches, ewig Neues. Nur er kennt das Geheimnis von Wechsel und Wandel, nur er weiß wirklich, dass alle Dinge geduckt
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