Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen
Es muss einfach Gischt sein!«
12
n der Schlosshalle schlug die Uhr sechs. In Wirklichkeit war es elf Minuten nach Mitternacht, doch die Halle war kaum dunkler, als sie am Morgen oder zur Mittagszeit war. Die Schlossbewohner lasen die Zeit an den Schattierungen der Dunkelheit ab. Zuweilen war die Halle nur kalt, weil die Wärme fehlte, und düster aus Mangel an Licht. Die Luft hing abgestanden und drückend in den Räumen, die Steine stanken nach faulem Wasser, denn es gab kein Fenster, um frischen Wind hereinzulassen. Das war der Tag. Zur Nacht jedoch war das Schloss mit vibrierender Dunkelheit geladen, strömte über davon, so wie es Bäume gibt, die den ganzen Tag mit der Unterseite ihrer Blätter Licht speichern und es noch lange nach Sonnenuntergang abgeben. Die kleinen Geräusche, die am Tage schliefen, erwachten jetzt, scharrten und schabten in allen Ecken und Winkeln. Kälte, Finsternis und Fäulnis erfüllten das Schloss.
»Mach Licht«, sagte Molly Grue. »Bitte, mach Licht!«
Schmendrick murmelte etwas Kurzes und Kundiges; zunächst geschah nichts, dann breitete sich allmählich eine blasse Helligkeit über den Boden hin aus, verteilte sich in der Halle auf tausend schillernden, huschenden, quiekenden Körpern. Das kleine Nachtgetier erglühte wie Leuchtkäfer, sie schwärmten in dem Saal umher, brachten mit ihrem kränklichen Licht umherschießende Schatten hervor und machten die Finsternis noch kälter.
»Hättest du’s nur nicht getan«, seufzte Molly. »Kannst du sie nicht wieder abstellen? Wenigstens die purpurroten mit den – mit den Beinen?«
»Nein, das kann ich nicht«, erwiderte Schmendrick grob. »Sei still. Wo ist der Schädel?«
Die Lady Amalthea sah ihn von einer Säule herabgrinsen, zitronenklein im Dunkel und blass wie der Morgenmond, aber sie sagte nichts. Seit sie den Turm verlassen hatte, war kein Wort über ihre Lippen gekommen.
»Dort!«, sagte der Zauberer. Er ging zu dem Totenkopf hinüber und spähte lange in dessen geborstene und zerfallene Augenhöhlen, nickte gemessen und gab feierliche Laute von sich. Molly Grue starrte den Schädel genauso eifrig an, blickte jedoch immer wieder auch nach der Lady Amalthea. Schließlich meinte Schmendrick: »Ausgezeichnet. Geht ein bisschen zur Seite.«
»Gibt es wirklich Zaubersprüche, die einen Totenkopf zum Sprechen bringen können?«, fragte Molly. Der Zauberer spreizte seine Finger und warf ihr ein kleines, kompetentes Lächeln zu.
»Es gibt für alles Zauberformeln! Die Meistermagier waren große Zuhörer, und sie ersannen Mittel und Wege, alle Dinge dieser Welt zu bezaubern – ob lebende oder tote –, um sie zum Reden zu bringen. Das ist für einen Magier das Wichtigste: Hören und Sehen.« Er holte tief Luft und rieb sich die Hände. »Der Rest ist Handwerk. Dann wollen wir mal!«
Er sah den Schädel scharf an, legte eine Hand auf dessen kahlen Scheitel und sprach ihn mit tiefer, befehlender Stimme an. Die Worte marschierten wie Soldaten aus seinem Munde, ihre Schritte hallten wider vor Kraft, als sie die finstere Luft durchschritten, doch der Schädel gab nicht die geringste Antwort.
»Das werden wir gleich haben«, flüsterte Schmendrick. Er nahm die Hand von dem Totenkopf und sprach wieder zu ihm. Dieses Mal klang sein Spruch vernünftig und schmeichelnd, beinahe bittend. Der Schädel schwieg; doch Molly kam es vor, als husche über die gesichtslose Vorderseite etwas wie Wachsamkeit und verschwände wieder.
In dem schwanken Licht des leuchtenden Ungeziefers schimmerte das Haar der Lady Amalthea wie eine Blume. Sie schien weder neugierig noch gleichgültig, sondern war auf eine Art ruhig, wie es ein Schlachtfeld zuweilen ist; sie beobachtete Schmendrick, wie er eine Zauberformel nach der anderen aufsagte, an einen sandfarbenen Knochenknorren hin, der genauso stumm war wie sie selbst. Jeder Zauberspruch klang verzweifelter als der vorhergegangene, doch der Totenkopf blieb stumm. Und doch war Molly Grue ganz sicher, dass er Bewusstsein besaß, dass er sie hörte und sich über sie lustig machte. Sie kannte das Schweigen des Spotts zu gut, um es mit dem des Todes zu verwechseln.
Die Uhr schlug neunundzwanzigmal, wenigstens gab Molly an diesem Punkt das Zählen auf. Die rostigen Schläge klirrten noch gegen den steinernen Boden, als Schmendrick plötzlich beide Fäuste schüttelte und den Totenkopf anschrie: »Du hast es ja so gewollt, du eingebildete Kniescheibe! Was hältst du zur Abwechslung von einem Schlag aufs
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