Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen
und Glockenblume, Lavendel und Lupine, Schafgarbe und Fingerhut. Malven milderten die alten, tief eingetretenen Spuren des Roten Stieres.
Als sie jedoch an einem späten Nachmittag nach Hagsgate kamen, harrte ihrer ein seltsamer und erbärmlicher Anblick. Die gepflügten Felder waren zertrampelt und verheert, die schönen Obstgärten und Weinberge verwüstet, weder Hain noch Baum war stehengeblieben. Selbst der Stier hätte keine vollkommenere Verwüstung anrichten können. Molly Grue kam es so vor, als hätten fünfzig Jahre gespeicherten Leides Hagsgate auf einen Schlag heimgesucht, während ebensoviele Lenze das übrige Land wärmten. Die zertrampelte Erde sah im Abendlicht grau und aschen aus.
König Lír sagte leise: »Was ist hier geschehen?«
»Reitet weiter, Euer Majestät«, erwiderte Schmendrick.
Die Sonne ging gerade unter, als sie durch das eingestürzte Stadttor von Hagsgate ritten und ihre Pferde langsam durch die Straßen lenkten, die verstopft waren mit Habseligkeiten aller Art, mit Brettern und zerbrochenem Glas, Mauertrümmern und Fenstern, Kaminen, Stühlen, Küchengeräten, Dächern, Badewannen und Betten, Simsen und Kommoden. Jedes Haus in Hagsgate war eingestürzt, alles Zerbrechliche zerbrochen; die Stadt sah aus, als hätte ein Riese sie zertreten.
Die Bewohner saßen auf ihren Haustreppen, wo immer sie diese wiedergefunden hatten, und betrachteten die Trümmer. Sie hatten früher das Aussehen von Hungerleidern gehabt, mitten im Überfluss; doch wirklicher Ruin ließ sie nun beinah erleichtert aussehen und um kein Jota ärmer. Sie bemerkten Lír kaum, als er heranritt, bis er sagte: »Ich bin der König. Was ist hier geschehen?«
»Ein Erdbeben«, murmelte ein Mann benommen, doch ein anderer widersprach ihm: »Es war ein Sturm, ein Nordoster, direkt vom Meer her. Er hat die Stadt in Stücke gerüttelt und Hagel fiel wie Hufschlag.« Ein dritter bestand darauf, eine Flutwelle sei über Hagsgate hinweggegangen, eine Welle so weil? wie Alabaster und so schwer wie Marmor, die keinen ertränkt und alles zerschmettert hätte. König Lír hörte ihnen grimmig lächelnd zu.
»Hört!«, rief er, als sie mit ihren Berichten fertig waren. »König Haggard ist tot. Sein Schloss gibt es nicht mehr. Ich bin Lír, Hagsgates Sohn, den man bei seiner Geburt ausgesetzt hat, um die Erfüllung des Hexenfluches zu verhindern. Ausgesetzt, um zu verhindern, dass dies geschähe!« Mit einer Armbewegung wies er auf die geborstenen Häuser. »Elende, törichte Menschen! Die Einhörner sind zurückgekommen, die Einhörner, die von dem Roten Stier zusammengetrieben wurden. Ihr habt gesehen, wie er es getan hat, doch ihr tatet so, als wäret ihr blind. Sie haben das Schloss zerstört und eure Stadt desgleichen. Doch euch selbst haben eure Gier und eure Angst zerstört!«
Die Leute seufzten ergeben, doch eine Frau in mittleren Jahren trat vor und sagte mit einiger Lebhaftigkeit: »Verzeihung, mein Gebieter, aber das scheint doch ein wenig ungerecht. Was hätten wir denn tun können, um die Einhörner zu retten? Wir hatten Angst vor dem Roten Stier, was hätten wir denn tun können?«
»Vielleicht hätte ein einziges Wort genügt«, erwiderte König Lír. »Jetzt werdet ihr es niemals wissen.«
Er wollte sein Pferd herumreißen und davonreiten, doch da rief eine schwache, heisere Stimme: »Lír, mein kleiner Lír, mein liebes Kind, mein König!« Molly und Schmendrick erkannten den Mann, der mit ausgebreiteten Armen keuchend und hinkend herbeigeschlurft kam und sich alle Mühe gab, älter auszusehen, als er war. Es war Drinn.
»Wer bist du?«, herrschte ihn der König an. »Was willst du von mir?«
Drinn fummelte an Lírs Steigbügel, rieb sich die Nase an seinem Stiefel. »Kennst du mich denn nicht, mein Junge? Ach nein, wie solltest du auch! Wie würde ich auch verdienen, von dir gekannt zu werden! Ich bin dein Vater, dein armer, alter, von Freude überwältigter Vater! Der dich in jener Winternacht vor vielen Jahren auf dem Marktplatz liegen ließ und dich so deiner hohen Bestimmung zugeführt hat. Wie weise ich war, und wie endlos lange traurig, und wie stolz bin ich am heutigen Tag! Mein Junge, mein lieber kleiner Junge!« Er brachte keine richtigen Tränen hervor, aber seine Nase lief.
Wortlos riss Lír an den Zügeln seines Pferdes, wollte es rückwärts aus dem Menschenauflauf führen. Der alte Drinn ließ die ausgebreiteten Arme sinken. »Das hat man davon, wenn man Kinder in die Welt setzt!«,
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