Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen
krächzte er. »Du undankbarer Sohn! Willst du deinen Vater in der Stunde der Not im Stich lassen, wo doch ein einziges Wort deines Schoßzauberers genügte, um alles wieder in Ordnung zu bringen? Verachte mich, wenn du willst; aber ich habe dennoch meinen Teil dazu beigetragen, dich dorthin zu bringen, wo du jetzt bist. Trau dich nicht, das zu leugnen. Auch Schurkerei hat ein Daseinsrecht!«
Schmendrick berührte des Königs Arm und flüsterte ihm ins Ohr: »Das ist wahr. Doch für ihn und für sie alle hätte diese Geschichte einen ganz anderen Ausgang genommen – wer weiß, ob er nicht noch unbarmherziger als dieser gewesen wäre! Du musst ihr König sein, und du musst so gnädig über sie herrschen wie über ein tapfereres und treueres Volk. Denn sie sind ein Teil deines Schicksals.«
Da hob König Lír die Hand, und die Bewohner von Hagsgate stießen einander an, bis alle erwartungsvoll schwiegen. Er sagte: »Ich werde meinen Freunden hier das Geleit bis zur Grenze meines Reiches geben. Meine Krieger lasse ich bei euch; sie werden euch helfen, die Stadt wieder aufzubauen. Wenn ich in kurzer Zeit zurückkehren werde, dann will auch ich mithelfen. Bevor Hagsgate wieder steht, werde ich nicht mit dem Bau meines neuen Schlosses beginnen.«
Sie beklagten sich bitterlich, schrien, Schmendrick könnte mit den Mitteln seiner Magie das alles in einem Moment vollbringen, doch dieser antwortete ihnen: »Selbst wenn ich das wollte, könnte ich es nicht. Wie es Gesetze gibt, die den Jahreszeiten und dem Meer befehlen, so gibt es auch Gesetze, die der Kunst eines Zauberers gebieten. Magie hat euch einst reich gemacht, als alle anderen Bewohner diese Landes arm waren, doch die Tage eures Wohlstands sind zu Ende, und ihr müsst jetzt von vorn anfangen. Was zu Haggards Zeiten wüst und öde lag, wird wieder grün und fruchtbar werden. Hagsgate aber wird Ernten hervorbringen, die genauso kärglich sind wie die Herzen derer, die hier leben. Ihr könnt eure Felder wieder bebauen und eure verwüsteten Obstgärten und Weinberge wieder aufrichten, sie werden jedoch nie wieder so üppig gedeihen, wie sie es einmal taten – bis ihr lernt, euch ihrer zwecklos zu erfreuen.«
Es sah das stumme Volk an, und in seinem Blick lag kein Zorn, sondern nur Mitgefühl. »Wenn ich an eurer Stelle wäre, würde ich Kinder in die Welt setzen«, sagte er. Dann wandte er sich an König Lír und fragte: »Was befiehlt Eure Majestät? Sollen wir die Nacht hier verbringen und uns bei Tagesanbruch auf den Weg machen?«
Doch der König gab seinem Pferd die Sporen und ritt aus den Trümmern von Hagsgate davon, so schnell er nur konnte. Es dauerte lange, bis Molly und Schmendrick ihn einholten, und noch länger, bis sie sich zum Schlafen niederlegten.
Viele Tage lang zogen sie durch König Lírs Reich; und mit jedem Tag kam ihnen dieses Land weniger bekannt vor, freuten sie sich mehr an ihm. Der Frühling lief ihnen feuerschnell voran, bedeckte alles Bloße und öffnete, was lange fest verschlossen. Er berührte die Erde, wie das Einhorn Lír berührt hatte. Vielerlei Tiere, vom Bären bis zur Biene, kreuchten und fleuchten, huschten und trippelten am Wegesrand; und der hohe Himmel, der so sandig und trocken wie die Erde gewesen war, blühte jetzt vor Vögeln; in so dichten Scharen schwirrten sie, dass es fast den ganzen Tag Abend zu sein schien. Fische tummelten sich in den reißenden Flüssen, und Wildblumen schossen wie entflohene Gefangene die Hügel hinauf und hinunter. Das ganze Land lärmte vor Leben, doch es war das stumme Frohlocken der Blumen, das die Reisenden bei Nacht wachhielt.
Die Bewohner der Dörfer grüßten sie argwöhnisch, kaum weniger mürrisch, als sie bei Mollys und Schmendricks erstem Besuch gewesen waren. Nur die Ältesten unter ihnen hatten schon einen Frühling erlebt, und viele von ihnen hielten das überschäumende Grünen für eine Seuche oder Landplage. König Lír teilte ihnen mit, dass König Haggard tot, der Rote Stier für alle Zeiten verschwunden sei, lud sie ein, ihn zu besuchen, sobald sein neues Schloss erbaut sei, und zog weiter. »Sie werden einige Zeit brauchen, um Freude an Blumen zu empfinden«, sagte er.
Überall verkündete er den Geächteten und Vogelfreien einen Generalpardon; Molly hoffte sehr, dass diese Nachricht bis zu Captain Cully und seinen fröhlichen Gesellen dringen würde. So geschah es auch, und die lieben Gesellen nahmen augenblicklich Abschied vom Leben im grünen Walde – bis auf Cully
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