Das letzte Einhorn
schwarzen Felsen. Bauschige Vögel hockten auf diesen Felsen, kreischten »sagteso, sagteso«. Der andere Wächter folgte seinem Kameraden mit gemächlichem Schritt. Er sagte: »Ein Mann und eine Frau. Die Gestalt in dem Mantel, ich bin mir ihrer nicht sicher.« Beide Wächter trugen selbstgemachte Kettenhemden: eiserne Ringe, Flaschenverschlüsse und Kettenglieder auf halbgegerbte Häute genäht; ihre Gesichter waren hinter rostigen Visieren verborgen. Die Stimme des zweiten Postens und seine Haltung kennzeichneten ihn als den Älteren. »Die in dem schwarzen Mantel«, wiederholte er, »sei dir ihrer nicht zu schnell zu sicher.«
Sein Kamerad beugte sich weit hinaus in den orangenen Glanz des kopfstehenden Meeres, wobei er sich an der Brustwehr einige Bolzen von seiner armseligen Rüstung riss. »Es ist eine Frau!« rief er. »Ich würde eher mein eigenes Geschlecht bezweifeln als das ihre!«
»Daran tätest du gut«, versetzte der andere höhnisch, »denn außer im Herrensitz zu reiten, tust du nichts, was einem Manne ziemt. Ich sage dir noch mal: nenne diese dritte Gestalt nicht vorschnell Mann oder Frau. Warte, wart’ ab, was du siehst.«
Der erste Wächter erwiderte, ohne sich umzudrehen: »Wäre ich aufgewachsen, ohne je zu träumen, dass es auf dieser Erde zwei voneinander getrennte Geheimnisse gibt, hätte ich jede Frau, die ich je getroffen, als meinesgleichen betrachtet – dennoch wüsste ich, dass dieses Wesen sich von allen unterscheidet, die ich bisher gesehn! Es hat mich immer gegrämt, dass ich dir missfiel, aber jetzt, wo ich sie sehe, grämt es mich, dass ich mir immer selbst missfallen habe. o, wie grämt mich das!« Er beugte sich noch weiter über die Brüstung, starrte sich die Augen aus dem Kopf, um die drei langsam nahenden Gestalten besser zu sehen. Ein Lachen rasselte hinter seinem Visier. »Die andere Frau sieht lahm und übellaunig aus«, berichtete er. »Der Mann scheint ein umgänglicher Kerl zu sein, obschon er ganz offensichtlich zum fahrenden Volk gehört. Ein Spielmann, will mir scheinen, oder ein Spieler.« Er schwieg geraume Zeit, beobachtete die drei Herankommenden.
»Und die dritte?« erkundigte sich der Ältere. »Deine Königin der Nacht mit dem bemerkenswerten Haar? Bist du ihrer in dieser Viertelstunde schon überdrüssig geworden? Hast du schon tiefer in sie geblickt, als Liebe es wagt?« Seine Stimme klang in dem Helm scharrend wie kleine, klauenbewehrte Füße.
»Ich glaube«, erwiderte der Jüngere, »ich könnte sie nie aus der Nähe betrachten, wie nah sie mir auch käme.« Seine Stimme klang gedämpft und voller Bedauern, hallte wider von vertanen Möglichkeiten. »Der Glanz des Neuen liegt auf ihr. Alles ist wie zum ersten Mal, sieh nur, wie sie sich bewegt, wie anmutig sie geht, wie sie den Kopf wendet, alles geschieht zum ersten Mal, das erste Mal, dass überhaupt jemand diese Dinge tut. Und wie sie Atem schöpft und ihn wieder ausströmen lässt, als wüsste niemand anderes auf der ganzen Welt, wie gut Luft schmeckt. Alles ist für sie da. Fände ich heraus, dass sie erst heute morgen zur Welt gekommen ist, dann würde mich nur wundern, dass sie schon so alt ist.«
Der andere Posten starrte auf die drei Wanderer hinab. Der große Mann erblickte ihn zuerst, danach die griesgrämige Frau. In ihren Augen spiegelte sich nur seine Rüstung, grimmig, verrostet und leer. Doch dann hob das Mädchen in dem zerfetzten schwarzen Mantel den Kopf, und er trat von der Brüstung zurück, schützte sich vor dem Glanz und der Helle mit seinem erhobenen Blechhandschuh. Einen Moment später verschwand es zusammen mit seinen Begleitern im Schatten des Schlosses; er senkte seine Hand.
»Ich denke, sie ist wahnsinnig«, sagte er gelassen, »kein ausgewachsenes Mädchen sieht so aus, es sei denn, sie ist verrückt. Das wäre zwar lästig, der einzigen anderen Möglichkeit aber bei weitem vorzuziehen.«
»Und die wäre?« fragte der jüngere Mann nach einiger Zeit.
»Die wäre, dass dieses Mädchen tatsächlich heute morgen geboren wurde. Wahnsinnig wäre mir lieber. Lass uns hinuntergehen.«
Als der Mann und die beiden Frauen das Schloss erreichten, standen die zwei Schildwachen zu beiden Seiten des Tores, ihre stumpfen, verbeulten Hellebarden gekreuzt, ihre Pallasche von der Gürtelmitte hangend. Die Sonne war untergegangen, und je mehr das Meer verblasste, desto bedrohlicher wurden ihre grotesken Rüstungen. Die Wanderer zögerten, sahen einander an. Sie hatten keine Festung
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