Das letzte Einhorn
endlich dich selber findest und weißt, was du bist. Danke mir nicht! Ich erzittere vor deinem Geschick.« Das weiße Mädchen sah ihn aus den klaren, amarantenen Augen des Einhorns an, die in dem neuen Gesicht sanft und erschreckend wirkten, doch es sagte nichts. Molly Grue jedoch fragte: »Und wenn du deine Magie einmal gefunden hast, was dann?«
»Dann ist der Bann gebrochen, und ich werde zu sterben beginnen, so wie ich es bei meiner Geburt getan habe. Auch der größte Magier wird alt, wie alle anderen Menschen, und stirbt.« Er schwankte und nickte, gab sich einen Ruck, um wachzubleiben – ein großer, hagerer, abgerissener Mann, der nach Schweiß und Schnaps roch. »Ich habe dir gesagt, dass ich älter bin, als ich aussehe«, fuhr er fort. »Ich ward als Sterblicher geboren, bin eine unsinnige lange Zeit unsterblich gewesen und werde eines Tages wieder sterblich sein. Deshalb weiß ich etwas, was ein Einhorn nicht wissen kann: Alles Sterbliche ist schön! Schöner als ein Einhorn, das ewig lebt und das schönste Wesen auf der ganzen Welt ist. Verstehst du mich?«
»Nein«, sagte das Mädchen. Der Zauberer lächelte erschöpft. »Du wirst es schon noch verstehen. Du bist jetzt zusammen mit uns in dieser Geschichte und musst ihr folgen, ob du willst oder nicht. Wenn du deine Gefährten finden willst, wenn du wieder ein Einhorn werden möchtest, dann musst du den Märchen zu König Haggards Schloss folgen, musst ihm folgen, wohin auch immer es dich führt. Ohne eine Prinzessin kann diese Geschichte nicht enden.«
Das weiße Mädchen erwiderte: »Ich werde nicht gehen.« Es trat ein wenig zur Seite, sein Körper sah matt und müde aus, das Haar hing stumpf herab. »Ich bin keine Prinzessin, bin keine Sterbliche, und ich werde nicht gehen. Seit ich meinen Wald verlassen habe, ist mir nur Böses widerfahren, und nichts als Böses kann den anderen Einhörnern in diesem Lande widerfahren sein. Gib mir meine alte Gestalt zurück, dann werde ich zu in einen Bäumen zurückkehren, zu meinem Teich, in meine Heimat. Deine Geschichte hat über mich keine Gewalt, denn ich bin ein Einhorn. Ich bin das letzte Einhorn.«
Hatte es das nicht schon einmal gesagt, vor langer Zeit, in der blaugrünen Stille seines Waldes? Schmendrick lächelte immer noch, doch Molly Grue sagte: »Gib ihm seine alte Gestalt zurück. Du hast gesagt, du könntest es. Lass es nach Hause gehen!«
»Das steht nicht in meiner Macht«, erwiderte er. »Ich habe dir gesagt, dass der Zauber nicht unter meinem Befehl steht, noch nicht. Deshalb muss auch ich weiterziehen zum Schloss, ins Glück oder Unglück, das mich dort erwartet. Versuchte ich, die Verwandlung jetzt rückgängig zu machen, könnte ich es wirklich in ein Nashorn verwandeln. Das wäre noch das Beste, was aber das Schlimmste anbetrifft …«, er schauderte und verstummte.
Das Mädchen schaute zu dem Schloss hinüber, das über das Tal emporragte. Hinter keinem der fernen Fenster, auf keinem der torkelnden Türme nahm sie eine Bewegung wahr. Auch vom Roten Stier war nichts zu sehen, doch spürte es dessen Anwesenheit, spürte, dass er an den Wurzeln des Schlosses lag und auf die Nacht lauerte. Das Mädchen berührte zum zweiten Mal die Stelle auf seiner Stirn. Als es sich umwandte, waren der Mann und die Frau eingeschlafen, wo sie gerade saßen: ihre Köpfe auf Luft gebettet, ihre Münder offenhängend. Es stand bei ihnen und sah ihrem Atem zu, hielt mit der einen Hand den schwarzen Mantel um den Hals geschlossen. Sehr schwach trieb zum ersten Mal der Geruch des Meeres zu ihm herüber.
Die Wächter erspähten sie kurz vor Sonnenuntergang als das Meer bewegungslos und blendend dalag. Sie patrouillierten auf dem zweitgrößten der vielen Türme, die krumm und schief dem Schloss entsprossen und es aussehen ließen wie einen Baum, dessen Wurzeln in die Luft wachsen. Die beiden Männer konnten von hier oben das gesamte Tal von Hagsgate überblicken: die Stadt und die kahlen Hügel dahinter, bis hin zur Straße, die vom Talrand her zu dem mächtigen, doch verfallenden Schloßtor führte.
»Ein Mann und zwei Frauen«, meldete der eine Wächter. Er lief hinüber auf die andere Seite des Turmes – eine schwindelerregende Bewegung, denn der Turm neigte sich so stark, dass der halbe Horizont des Postens aus Meer bestand. Das Schloss saß an der Kante eines Kliffs, das steil und glatt wie eine Messerschneide abfiel; drunten lag ein schmaler, blasser Strand mit eingesprengten grünen und
Weitere Kostenlose Bücher