Das letzte Einhorn
sperren.« Der Zauberer zuckte zusammen, denn er erinnerte sich an Mollys Beschuldigung; doch dann sprach er mit einer verzweifelten Ruhe: »Erstens einmal ist es eine sehr anziehende Gestalt; unter den Menschen wird es wohl kaum eine schönere geben!«
Das Mädchen sah an sich hinab, seitwärts auf die Schultern, die Arme entlang, an dem zerkratzten und wunden Körper hinunter, stand auf einem Bein, um die Sohle des anderen zu beäugen, verdrehte die Augen, um die silbrigen Brauen zu sehen, schielte die Wangen hinab, um einen Schatten seiner Nase zu erhaschen, betrachtete die seegrünen Adern an den Innenseiten der Handgelenke, Adern, so fröhlich wie junge Ottern. Endlich wandte es sein Gesicht dem Zauberer zu, dem wieder der Atem stockte. ›Ich habe gezaubert‹, dachte er, doch dann bohrte sich Leid in seine Kehle, wie ein jäher Angelhaken.
»Gut«, sagte er, »dir mag es gleichgültig sein, dass ich dich nicht in ein Nashorn verwandelt habe – Nashörner sind es im übrigen gewesen, die diese unsinnige Mythe verursacht haben, doch in dieser Erscheinung hast du wenigstens eine gewisse Aussicht, zu König Haggard zu gelangen und herauszufinden, was aus deinen Gefährten geworden ist. Als Einhorn wäre dir ihr Schicksal widerfahren – es sei denn, du könntest den Roten Stier besiegen, wenn du ihm das nächste Mal gegenüberstehst.«
Das weiße Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich nicht. Das nächste Mal könnte ich nicht einmal so lange Widerstand leisten.« Die Stimme klang so weich, als wären ihre Knochen gebrochen. »Meine Gefährten sind nicht mehr, und bald werde ich ihnen folgen – in welche Gestalt auch immer du mich sperrst. Doch hätte ich jede andere Form lieber zu meinem Gefängnis gewählt. Ein Nashorn ist so hässlich wie ein Mensch, und es ist auch sterblich, aber wenigstens denkt es niemals, es sei schön.«
»Nein, das tut es nie«, stimmte der Zauberer zu. »Deshalb bleibt es auch immer und ewig ein Nashorn und wird nicht einmal an Haggards Hof willkommen sein. Doch ein junges Mädchen, eines, dem es nie und nimmer etwas ausmachte, ein Nashorn zu sein, solch ein Mädchen könnte – während der König und dessen Sohn sein Geheimnis zu ergründen versuchen – sein eigenes Rätsel lösen. Nashörner sind nicht wissbegierig, doch junge Mädchen sind es.«
Der Himmel war heiß und erstarrt, die Sonne schon zu einem löwenfarbenen Fleck geronnen. Auf der Ebene von Hagsgate rührte sich nichts als der modrige, trockene Wind. Das nackte Mädchen mit dem Blumenmal auf seiner Stirn sah schweigend den grünäugigen Mann an, und die Frau beobachtete sie beide. In dem fahlroten Morgenlicht schien König Haggards Schloss weder bedrohlich noch verhext, sondern schlecht angelegt, vernachlässigt und verkommen. Die zackigen Zinnen sahen nicht im geringsten wie die Hörner eines Stieres aus, eher wie ein Zipfel einer Narrenkappe. ›Oder wie die Spitzen eines Dilemmas‹, dachte Schmendrick, ›die haben auch immer mehr als zwei.‹
Das weiße Mädchen sagte: »Ich bin immer noch ich selbst. Dieser Körper stirbt, ich spüre, wie er rings um mich herum zerfällt. Wie kann irgendetwas Sterbliches schön sein, wie kann es Wirklichkeit haben?« Molly Grue legte den Mantel des Zauberers wieder um die Schultern des Mädchens, nicht aus Schamgefühl oder Schicklichkeit, sondern aus einem merkwürdigen Erbarmen heraus, so als wolle sie es davor bewahren, seinen Körper sehen zu müssen.
»Ich erzähl’ dir eine Geschichte«, sagte Schmendrick. »Als Junge war ich Lehrling bei dem mächtigsten aller Magier, dem großen Nikos, den ich schon früher erwähnt habe. Aber selbst Nikos, der Katzen in Kühe, Schneeflocken in Schneeglöckchen und Einhörner in Menschen verwandeln konnte, vermochte nicht, aus mir auch nur einen Jahrmarktskartenkünstler zu machen. Zu guter Letzt sprach er zu mir: ›Mein Sohn, deine Untauglichkeit ist so ungeheuer, deine Talentlosigkeit so tief, dass dir größere Mächte innewohnen müssen, als ich sie je gekannt habe. Leider scheinen diese Kräfte im Augenblick verkehrt zu wirken, und selbst ich weiß keinen Weg, das in Ordnung zu bringen. Du musst dazu ausersehen sein, deinen eigenen Weg zu finden und dir deiner Macht erst zu einer vorbestimmten Zeit bewusst zu werden. Es mag sehr lange dauern, bis du das erlebst, und deshalb verleihe ich dir die Gabe, vom heutigen Tage an nicht zu altern; du wirst die Welt durchwandern, unwirksam in alle Ewigkeit, bis du
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