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Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)

Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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Bettkante. Dann reicht er mir die Hand, damit ich mich aufsetzen kann. Ächzend ziehe ich mich hoch. Meine nackten Füße berühren den eiskalten Parkettboden.
    Gil kniet sich vor mir hin, nimmt meine Hand und sieht zu mir auf. »Geht es?«, fragt er besorgt.
    Dieser Blick!
    Wie rührend!, denke ich zynisch. Wenn ich gerade erst erwacht wäre, würde ich dir glauben, du verdammter Mistkerl!
    Das Gefühl der Hilflosigkeit schnürt mir die Kehle zu. Warum bin ich nur so abhängig von ihm!
    »Kurze Verschnaufpause«, keuche ich.
    Was du kannst, kann ich schon lange! Du täuschst mich, ich täusche dich, du belügst mich, ich belüge dich. Wir werden sehen, wer als Erster die Wahrheit ans Licht bringt … und wer als Erster das Mandylion findet …
    Gil streicht mir eine lange Strähne aus der Stirn. »Du siehst blass aus, mein Schatz. Du bist noch sehr schwach. Und du zitterst. Willst du dich nicht lieber wieder hinlegen?«
    Nein! Genau wie du will ich herausfinden, was ich kann und was nicht. Ob ich aus eigener Kraft stehen kann – und gehen und laufen und flüchten und kämpfen. Mein Leben hängt davon ab.
    »Nein, ich möchte aus dem Fenster sehen.«
    »Wie du willst.« Gil zieht mich auf die Beine. »Leg deinen Arm um mich. Ja, genau so. Siehst du, es geht doch.« Als ich mich gegen ihn lehne, haucht er mir einen Kuss auf die Wange. »Nicht so schnell!«
    Schritt für Schritt stolpere ich, von ihm gestützt, über den knarrenden kalten Parkettboden am Tisch vorbei zur Fensternische.
    Das Fenster reicht vom Boden bis zur Decke des gewölbten Raumes und sieht aus wie eine zweiflügelige Tür aus Glas. Die beiden hölzernen Innenläden sind zur Wand der tiefen Fensternische zurückgeklappt.
    Gil führt mich bis an die Glasscheiben, so nah, dass ich die Kälte des mit feinen Eisblüten bedeckten Glases auf meiner Haut spüre. Dann drängt er sich von hinten gegen mich und gibt mir Halt. Ich lehne mich gegen ihn, während ich das dichte Schneegestöber betrachte. Denn ich habe Angst, dass er mir einen kräftigen Stoß versetzt, ich durch die Scheiben krache und in die Tiefe falle.
    Vorsichtig luge ich hinunter. Sofort wird mir schwindelig. Das muss ich Gil nicht einmal vorspielen. Er legt seinen Arm um mich und hält mich fest.
    Einen Sturz aus dieser Höhe würde ich wohl nicht überleben. Aber Neugier macht mutig: Ich lehne mich ein wenig nach vorn und spähe nach unten. Ich erkenne einen Felsvorsprung neun oder zehn Ellen unterhalb des Fensters, der wie die knorrige Wurzel einer Eiche aus dem massiven Mauerwerk herauswächst. Darunter ragt eine Wehrmauer auf. Und noch etliche Ellen tiefer führt ein treppenartiger Weg über die steilen Felsen zu einer Terrasse links vor mir herauf. Von dort führen Stufen in ein Gebäude hinein. In eine Kirche? Überall entdecke ich verwehte Fußspuren.
    Kein Blut in der hohen Schneewehe direkt unter meinem Fenster. Aber auch keine Spuren, dass die Absturzstelle geräumt wurde. Keine verwehten oder zugeschneiten Fußstapfen, kein Blut, kein zerwühlter Schnee, nichts. Vor drei Tagen bin ich vermutlich nicht aus diesem Fenster gestürzt.
    Ich lehne mich noch ein bisschen weiter vor. Woher sonst? Ich muss herausfinden, was geschehen ist. Ob ich angegriffen und gestoßen wurde.
    Der Schnee hat ein Gedächtnis – ich nicht. Er bewahrt Spuren, die nur schwer verändert oder verfälscht werden können. Fußtritte bleiben erhalten, selbst wenn es stundenlang schneit. Ebenso Blut. Oder andere Dinge, die unentdeckt im Schnee versinken. Ich muss mir das Gedächtnis des Schnees zunutze …
    Eine Bö weht den Schnee gegen die Scheibe. Ich weiche erschrocken zurück und pralle gegen Gil. Der Sturm, der um das Gemäuer fegt und an den Scheiben rüttelt, klingt auf einmal wie das entfernte Dröhnen von Kirchenglocken. Und ist das nicht Kanonendonner? Plötzlich schießt aus der Tiefe eine grelle Stichflamme hervor. Eine Wolke aus orangefarbenem Feuer und schwarzem Rauch steigt auf und hüllt die verschneiten Treppenwege unter mir ein. Und plötzlich habe ich wieder den Gestank der Schlacht in der Nase. Pulverdampf. Heißes Pech. Blut. Und Tod.
    Seit siebenundvierzig Tagen liegen wir unter schwerem Feuer. Und ich habe das entsetzliche Gefühl, dass der nächste Einschlag aus einer Kanone der Türken die Stadtmauer unter mir endgültig zerstören könnte.
    Ich taumele. Hastig breite ich die Arme aus, um mich an den Zinnen der Brüstung festzuhalten …
    »Keine Angst, ich halte dich!«, sagt Gil und

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