Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
reißt mich aus meinem Albtraum. Er legt seinen Arm fester um mich und küsst mich in den Nacken.
Sein Atem streicht mir warm über die Haut. Ich erschauere und nehme die Hände von der Einfassung der Fensternische, an der ich mich festgehalten habe.
»Erkennst du etwas wieder?«, fragt Gil leise.
Ich lasse meinen Blick über die tief verschneiten Abruzzen schweifen. Den Gran Sasso kann ich im dichten Schneegestöber nicht sehen. Ebenso wenig das Tal, denn es ist nebelig. Die Abtei oder Burg liegt inmitten von Schneewolken auf einem hohen Berg, dessen Felsflanken beinahe senkrecht abfallen.
Eine Flucht ist ausgeschlossen. Der Berg ist zu hoch, der Felssturz zu steil und der Weg vermutlich vereist und tief verschneit. Ich bin eine Gefangene. Mit drei Henkersknechten, die meinen Kerker bewachen.
Wie in meinen Visionen. Nur ist hier kein Feuer, sondern Schnee und Eis. Und kein dröhnender Kanonendonner, sondern Stille und Einsamkeit.
Die Apokalypse geht weiter. Die apokalyptischen Reiter haben gesiegt, die Engel haben ihre Posaunen weggeworfen, das Neue Jerusalem ist niedergebrannt und zerstört. Und jetzt? Die geschlagenen Engel greifen zum blutigen Schwert.
Ich atme tief durch. Gott im Himmel, wie soll mich hier irgendjemand finden und retten? Falls überhaupt jemand außer dem alten Schäfer nach mir sucht …
Unwillkürlich ziehe ich die Schultern hoch.
Gil legt seinen Kopf zärtlich an meine Wange. »Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe?«
»Was?«, frage ich verdutzt.
Du hast nichts gesagt. Das weiß ich genau. Ich bin wach. Rede mir nicht ein, dass ich es nicht bin.
»Ich habe dich etwas gefragt.«
Nein, das hast du nicht! Hör auf damit! Willst du mich in den Wahnsinn treiben?
»Alles in Ordnung?«, flüstert er sanft. »Komm jetzt, ich bringe dich wieder ins Bett. Du zitterst ja vor Kälte.«
Nicht vor Kälte, Gil. Vor Angst. Und vor Wut.
Ich lasse mich von ihm in die Arme nehmen und lege meinen Kopf an seine muskulöse Schulter, während er mich über den entsetzlich knarrenden Parkettboden zum Bett zurückträgt.
Schwungvoll legt er mich in die Kissen, dann deckt er mich zu und küsst mich auf die Lippen. »Kann ich dich eine Weile allein lassen?«
»Wohin willst du?«
»Ich muss unsere Pferde versorgen und Holz fürs Kaminfeuer hacken. Dann werde ich dir etwas kochen, damit du wieder zu Kräften kommst. Du hast seit drei Tagen nichts gegessen.« Er lacht verschmitzt. »Gestern habe ich eine Gämse geschossen. In der Küche der Abtei habe ich Steingutkrüge mit Lorbeerblättern, Thymian, Nelken und Wacholderbeeren gefunden. Und im Weinkeller gibt es noch ein Fässchen Rotwein, das die Fratres zurückgelassen haben, als sie die Abtei verließen. Wir haben noch einen Kanten hartes Schwarzbrot in den Satteltaschen, der kommt in die Sauce. Das gibt einen schönen Gämsenbraten.«
Die Abtei ist verlassen? Dann bin ich also allein mit Gil, Adrian und Lionel. Gut, dass ich das weiß.
»Du kommst doch bald wieder?«
Ich bemühe mich, ängstlich, verstört und erschöpft zu klingen.
Er schüttelt den Kopf. »Ich lass dich nicht lange allein.«
Ich ziehe die Bettdecke bis zur Nasenspitze hoch. »Kannst du noch ein Holzscheit nachlegen? Ich friere, und ich will noch ein bisschen schlafen.«
Er geht zum Kamin hinüber und stapelt noch drei Holzscheite ins Funken sprühende Feuer. Dann kommt er zu mir zurück. »Bis bald, mein Schatz.«
Ich lächele matt.
Deine Drohung habe ich sehr wohl verstanden, Gil. Ich weiß, was du mit mir vorhast. Aber du weißt nicht, was ich tun werde. Denn sonst hättest du keine Holzscheite ins prasselnde Feuer gelegt.
Ich bin nicht so ohnmächtig, wie du denkst, Gil. Du wirst schon sehen. Du denkst, weil ich mit dem Tod gerungen habe, bin ich schwach. Du denkst, weil ich mein Gedächtnis verloren habe, bin ich nicht so gerissen wie du. Du denkst, weil ich allein bin, kann ich mich gegen euch drei kampferprobte Mönchsritter nicht wehren. Du denkst, du kannst mich besiegen. Unterschätz mich nicht! Du wirst nie wissen, ob ich mich nicht doch erinnere. Und mit den Holzscheiten hast du gerade deinen ersten Fehler gemacht. Ich werde dich überleben, du Mistkerl. Du wirst nicht an meinem Grab stehen! Ich werde an deinem Grab stehen, Gil! Du wirst schon sehen.
Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hat und seine Schritte im Gang verklungen sind, schlage ich die Bettdecke zurück, ziehe den zerknitterten Zettel zwischen den Falten des Lakens hervor, stopfe ihn
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