Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
hier so offen hingelegt hat, können sie das Versteck des Mandylions noch nicht gefunden haben. Ist der Schlüssel eine Falle? Will Gil, dass ich ihn zum Mandylion führe?
Wo ist Galcerán de Borja y Llançol de Romanì? Dem Namen nach muss er mit mir verwandt sein. Was ist bloß geschehen? Das Blut auf meinem Hemd – ist das meines oder seines? Ist er einer der Toten, die in meiner Erinnerung auf dem glänzenden Marmorboden liegen? Und wer ist der andere? Was habe ich getan?
Ganz tief in mir regt sich etwas. Eine Ahnung. Dass etwas Schreckliches passieren …
Ein Geräusch lässt mich aufhorchen. Knirschende Schritte. Kommt Gil zurück? Ich halte den Atem an und lausche. Nein, die Geräusche kommen von draußen. Ich lege den Schlüssel zurück auf den Tisch, stemme mich an der Kante hoch und taumele zurück zum Bett. Tief durchatmen, dann weiter! Ich mache einen großen Bogen um die knarrenden Dielen, stolpere zum Kamin hinüber und taste mich an der Wand entlang zur Fensternische.
Ein Blick durch die Eisblumen nach unten genügt: Ein wenig rechts von mir steht Gil im dichten Schneetreiben und spricht mit einem Mann, dessen Kleidung schneebedeckt ist – ein langer schwarzer Mantel mit weißem Kreuz über dem Herzen. Darunter trägt er ein Schwert. Jetzt habe ich Gewissheit: Fra Gil, Fra Adrian und Fra Lionel sind Johanniter!
Ich sehe an mir hinunter. Jetzt erst erkenne ich, dass das weite Gewand aus ungebleichtem Leinen kein Nachthemd ist, sondern das Untergewand von Gils Habit. Fröstelnd ziehe ich den groben Stoff enger um mich und blicke wieder nach draußen.
Was haben die beiden zu bereden? Leise öffne ich das Fenster und lehne mich so weit wie möglich hinaus. Dicke Flocken wehen mir ins Gesicht und bleiben in meinen Haaren hängen.
»… ist aufgewacht? Wie geht es ihr?«, fragt der Mönchsritter und zieht die Kapuze seines Habits vom Kopf. Schnee fällt auf seine breiten Schultern.
Ich erkenne seine raue Stimme wieder. Es ist Lionel. Haare und Bart kurz und silbergrau, schmale Lippen und eine entsetzliche Narbe vom linken Mundwinkel bis zur linken Augenbraue. Um ein Haar hätte er im Kampf ein Auge verloren. Dann wird der wirbelnde Schnee wieder dichter, und ich vermag kaum noch etwas zu erkennen.
»… sich an nichts erinnern … weder wer sie ist … Reliquie …« Ich kann Gil kaum verstehen, weil er mir den Rücken zuwendet.
Lionel atmet tief durch. »Und Fra Galcerán?«
Gil schüttelt den Kopf.
»Sie wird ihrem Ruf gerecht. Gott verfluche sie.« Lionel spuckt aus.
»Was machst du hier oben? Habe ich nicht befohlen, ihr sollt in der Priorei bleiben?«
»Verehrter Bruder, ich habe gerade einen Ballen Stroh heraufgeschleppt und die Pferde versorgt. Weißt du eigentlich, wie vereist der steile Weg inzwischen ist? Das ist lebensgefährlich!«, faucht Lionel erbost und klopft den Schnee von seinem schwarzen Habit. »Fra Adrian ist auch hier. Er hackt Feuerholz. Sobald er fertig ist, wollen wir uns aufwärmen und die Sext feiern. Kommst du zum Gebet?«
»Natürlich. Ihr könnt zum Essen bleiben. Wir brechen das Brot gemeinsam.«
Lionel nickt. »Wie steht es um deine Vorräte? Bei dem Wetter ist es schwierig zu jagen. Und in der alten Templerkomturei im Tal gibt es …«
»Die Gämse reicht noch für drei Tage. Bis dahin müssen wir sowieso verschwunden sein.«
»Glaubst du, er kommt hierher?«
»Ich vermute, er will sie wiederhaben.«
»Das kann ich mir denken. Ihr hat er es zu verdanken, dass er vor sechs Jahren beinahe Papst geworden wäre.«
»Im Konklave fehlten ihm nur zwei Stimmen, ich weiß.«
»Oh, bevor ich’s vergesse.« Lionel zieht etwas unter seinem schon wieder zugeschneiten Mantel hervor. Eine kleine Kapsel aus Metall. »Ein Brief vom Großmeister.«
»Aus Rhodos?«
»Eine Brieftaube brachte Fra Jeans Brief in die Großpriorei von Rom. Der Bote brauchte zwei Tage bis hierher. Er wartet im Tal auf deine Antwort.«
Gil nickt. »Was gibt es Neues aus Rom?«
»Alles ist ruhig. Ihr Cousin ist nicht dort.«
»Wo ist er dann?«
»In Orvieto. Beim Papst.«
»Und ihre Feunde?«
»Ludovico Scarampo, Domenico Capranica, Guillaume d’Estouteville und Basilios Bessarion sind am päpstlichen Hof in Orvieto. So wie Prospero Colonna und Latino Orsini. Und Alonso de Borja soll mit seiner Eskorte auf dem Weg dorthin sein. Weiß der Himmel, was Seine Heiligkeit vorhat. Der Großprior von Orvieto hat vom Großprior in Rom den Befehl erhalten, alle zu
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